Einführungsreden

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Worte zur Einführung, gesprochen von Thomas Milz zur Musik von Ursula Quast am 29. März 2023 bei der Vernissage von Thomas Renner „Die Ordnung der Bilder“.

 

Die Worte von Thomas Milz begleitet von der Musik von Ursula Quast können Sie auch in einem Video erleben. Klicken Sie dazu auf den folgen Link:

 

https://youtu.be/bLTxqUXLB64

 

 

Die leuchtenden Nacht-Gesichte und fahlen
Ent-Hauptungen des Hartmut Renner

 

l. Die Ordnung der Identität

Zu-Schreibungen und Ein-Schreibungen. Projektionen und Verletzungen. Zwei eher rätselhafte Figurenzeichnungen des Künstlers, deren Eine mit „we need to talk" überschrieben ist. Zusätzlich ist dieses Wesen mit drei unterschiedlich großen runden Augen oder Schirmen versehen. Im größten sind afrikanische Ländernamen mit der Erinnerung an koloniale und post-koloniale Verbrechen aufgelistet: „Ruanda, Kongo, Nigeria." Beide Figuren in Untersicht. Beider Frauengesichter mit negroiden Zügen. Beiden weiblichen Figuren haftet etwas exotisch Gespenstisches an. Umherirrend Un-Totes, das keinesfalls begraben ist. Heiner Müller mit seiner rasierklingenscharf knappen Büchnerpreis-Rede von 1985 unter dem Titel „Die Wunde Woyzeck" drängt sich uns auf. Der anregendste gesamtdeutsche Nachkriegsautor schreibt: „Woyzeck lebt, wo der Hund begraben liegt, der Hund heißt Woyzeck. Auf seine Auferstehung warten wir mit Furcht und/oder Hoffnung, dass der Hund als Wolf wiederkehrt. Der Wolf kommt aus dem Süden. Wenn die Sonne im Zenith steht, ist er eins mit unserm Schatten, beginnt, in der Stunde der Weißglut, Geschichte." Die eine schuppig bekleidete Figur Hartmut Renners, geschmückt mit einem brokatig gefalteten Turban, hat eine Hand hinter dem Rücken versteckt. Was hält sie da? Ein Messer? Wir warten. Auf was? Auf Geschichte. „We need to talk."

 

II. Die Ordnung des Selbst

„Selbst", eine Serie von vier Selbstbildnissen des Künstlers, die im Corona-Jahr 2021 entstanden sind. Wie in floureszierendes Schwarzlicht getaucht mit halluzinogenen Farben das Gesicht des Künstlers aus dem aus Mund, Nase und Kopf seltsame Gespinste sprießen, ja blühen, corona-ähnlich. Selbstportrait als spuckender, trielender, explodierender Virus. Fieberbildnisse der Aushäusigkeit im eigenen Körper. Kein Blick mehr. Die Augen als dunkle Höhlen. Mimesis an einen unsichtbaren Aggressor. Die Pandemie als Kriegserklärung an die Zivilisation — das Virus als unser Begleiter von Anfang an. Die Serie von Hartmut Renners Arbeiten als Pass-Bilder für das scheinbar Fremde. Hartmut Renner verleibt es sich ein. Macht sich im ähnlich. Und leistet doch ästhetischen Widerstand, indem er das Leid, den Schmerz, die Qual mit inszeniert. Ein im horizontlosen Raum erscheinendes Antlitz als Selbst-Vertreter. Ein eindringlich künstlerisches Unternehmen, den Schrecken zu bannen.

 

III. Die Ordnung der Sprache

Ein immer wiederkehrendes Motiv in Hartmut Renners Arbeiten sind die Hände. Meist unproportional monströs im Verhältnis zum Körper dargestellt. Wir vermuten, das hat mit seinem Gespür für das Verkümmern der Aufgaben und Funktionen dieses für die Menschwerdung so wichtigen Körperteils zu tun. Den Händen in unserer digitalen Wisch-Moderne wird zunehmend das Greifen entzogen. Und damit uns das Be-Greifen? Ein zutiefst auch erotisch aufgeladenes Phänomen. Die Berührung mit der verletzlichen Haut, des rauen Materials, wird ersetzt durch das fixe Streicheln über aalglatt-kühle Benutzeroberflächen. Die Serie seiner Hand-Zeichnungen der Gebärdensprache für Gehörlose — jede Geste ein Buchstabe — sind, könnte man sagen, in den Himmel gestreckte Ausrufezeichen des Begehrens nach Berührung. „Ein Zeichen sind wir, deutungslos", heißt ein Vers aus Hölderlins Gedicht „Mnemosyne", der Muse der Erinnerung gewidmet. Ein Zeichen für was? Das ist die große Frage, um deren Beantwortung die Gattung Mensch ringt. „Deutungslos" kann auch eine ungeheure Freiheit bedeuten. Nämlich nicht-bestimmt. Das kann Angst machen. Hartmut Renners Hände greifen mit blutigen Sprengseln nach einer Bestimmung, einem Touch, einem Halt, einem Werk.

 

IV. Blind Spot, die Ordnung des Unterbewusstseins

Zwei Gesichter— des Künstlers und seiner Frau - als Gesichter mit geschlossenen, ja zusammengekniffenen Augen. Blinde, wie der antike Wahrsager Thereisias, sehen mehr. Die Lider von Innen als Leinwand, auf der sich was, welcher Film abspielt? Bleistift und Tusche- Zeichnungen, ohne weiter Farbgebung. Fahle Ausdrucksstudien, die die Gesichter wie Totenmasken wirken lässt. Unter der wie durchscheinenden Haut wirken die Schädel, ohne Haare, wie abgenommene Totenmasken. Die Köpfe haben keinen Körper, sie scheinen auf dem Blatt ohne Raum in der Fläche zu schweben. Keine Behauptung des autonomen Subjekts, sondern dessen gespenstische Ent-Hauptung. Der offene Blick auf die Welt schmerzlich verschlossen, verweigert. Künstlich irreale Stricheleien überziehen das Antlitz wie niedergelassene Fliegenschwärme. Pest und Verwesung. Ausdruck menschlichen Martyriums, der wie vom Schweißtuch Jesu der Veronika inspiriert scheint. Wir sehen unverwechselbare Gesichtszüge. Nicht verhandelbare Eigenheit. Wie hier, in unserem Film, übereinander geblendet, ist das auch eine Liebesgeschichte.

 

V. Die Ordnung der Ränder

„Wir sind die Schauspieler unseres eigenen Gesichts", schreibt Hartmut Renner zu einer Serie von Ausdrucksstudien. Ob bewusst oder unbewusst, der Satz lässt sich mit präzisem, das heißt hier: ambivalentem Realismus in zwei Richtungen lesen. Wir selbst geben unserem Gesicht den zu unseren Empfindungen passenden Ausdruck. Sind also die Akteure. Oder eben umgekehrt: Die jeweilig sichtbaren Regungen machen uns zu Objekten, Statisten unseres Gesichts. Also der Ausdruck, bestimmt unsere Gefühle. Was ist zuerst da? Wer ist hier das Subjekt? Renner untersucht das in Darstellungen des Lachens, des Schmerzes und, wie hier zu sehen, des Zorns. Alle dieser drei Regungen aber gehören in den Bereich existentieller Extrem-Erfahrungen, die wir gerade nicht steuern können, Sie werden eher selten geschauspielert als dass sie uns unwillkürlich ergreifen. Mit Lachen, Zorn und Schmerz geraten wir außer uns. Sind eben nicht mehr wir selbst. Oder eben gerade doch. Weil wir hier nicht mehr spielen. Sondern in Schmerz, Zorn und Gelächter auf uns selbst zurückverwiesen werden. Und doch auch hier kollektiv gemeinsame Gesichtsmarkierungen zeigen, die auf individuell geteilte Gesellschaft verweisen.

 

VI. Die Ordnung der Signifikanz

Die Macht ist obszön. Als Gewalt erscheint sie erigiert penis-bestückt. Aus allen Rohren wird geschossen. Zerstört und nicht gezeugt. Das Objekt der Begierde, das seltsam weiblich konnotierte Vaterland, die Heimat, vor allem in Form ihrer triebhaft-verstörenden Städte mit ihren unkontrollierbaren Misch-Kulturen, wird vergewaltigt, in Schutt und Asche gelegt, wie weiland die Hexen. Ein Bomber, ein Panzer als Foto würden das dokumentieren. Hartmut Renner ist das nicht genug. Mit Kohle und Papier zeichnet er sich mit seiner Hand in die Gemengelage des Krieges ein. Das Foto bleibt kühl. Der zeichnerische Strich versengt die Unterlage. Der Künstler, und wir mit ihm, brennen mit. Diese Mitschriften der Lust am Unbehagen in der Zivilisation, dem Hang zur Selbstzerstörung, fehlt jeder Horizont, jede Perspektive. Die Erde penetrierend. Ohne Berührung.

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BW

Einführungsrede zur Ausstellung Sylwia Makris: „The Old Masters“

 

gehalten von Birgit Wiesenhütter, Kunsthistorikerin (M. A.)

 

Galerie der Stadt Wendlingen am 1. Februar 2023

 

Schönheit und Pracht in einer symbolhaft aufgeladenen, verführerischen Bildwelt, Bilder die erzählen – das verbinden wir mit der Malerei der frühen Neuzeit, der Kunst des ausgehenden 15. und vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts. In diesem Sinne präsentieren sich aber auch die Werke von Sylwia Makris hier in der Galerie der Stadt Wendlingen. „The Old Masters“ ist die hier gezeigte Serie betitelt und bezieht sich ganz direkt auf berühmte, aber auch weniger bekannte Vorbilder von Künstlerinnen und Künstlern der genannten Zeitspanne – ergänzt durch Arbeiten nach Gustav Klimt und Frida Kahlo. Teilweise nutzt die Künstlerin auch nur den „Look“, den Stil dieser Bildwelt, um eigene Motive in Szene zu setzen. Als Kunsthistorikerin fühlt man sich beim Gang durch die Ausstellung beinahe in eine Prüfungssituation zurück versetzt und hofft, alles auch richtig zu erkennen … netterweise steht die jeweilige Inspirationsquelle jetzt auf den Schildern neben den Bildern. Sylwia Makris bedient sich dieser Kunst der „Alten Meister“ im Sinne der Appropriation Art, d.h. es handelt sich um einen konzeptuellen Ansatz, eine bewusste Aneignung der Bilder anderer Künstler, um auf diese Weise Fragen aufzuwerfen.

 

Obwohl Sylwia Makris Bildhauerei studiert hat, ist ihr Medium seit 2007 die Fotografie. Ihr bildhauerisches Verständnis, ihre dreidimensionale Vorstellungskraft ist in ihren Arbeiten jedoch zentral, denn ihre Motive stellt sie mit realen Menschen nach, setzt sie aufwändig im Studio in Szene. Schon die Vorarbeiten dazu sind intensiv. Nichts bleibt dem Zufall überlassen.

 

Der ikonografische Kanon, aus dem sie sich bedient, reicht von Heiligen, Madonnen und anderen biblischen Motiven über die antike Sagenwelt bis zu bekannten Porträts. Ihre Bilder erzählen jedoch eine eigene Geschichte.

 

Allem voran sind sie zunächst Porträts und reflektieren eine individuelle Persönlichkeit. Die Modelle, die sie für ihre Inszenierungen einsetzt, sind nicht zufällig gewählt, sondern wie Sylwia Makris sagt „besondere Menschen“,  zum Beispiel ein Junge, der 75 Kilo abgenommen hat, oder ein Mädchen, das ohne Beine geboren wurde, der volltätowierte Rick Zombie oder das AlbinoModel Shaun Ross. Wie nimmt der Betrachter das an Velàzquez‘ Infantin Margarita inspirierte Bild eines Mädchens mit Down-Syndrom wahr? Was denken wir, wenn wir das um 1594 entstandene Gemälde „Gabrielle d‘Estrées und eine ihrer Schwestern“ in der Neuinszenierung von Makris betrachten und wahrnehmen, dass der Griff zur Brustwarze ins Leere geht, da sich die Porträtierte als Brustkrebspatientin einer Mastektomie (der Entfernung einer Brustdrüse) unterziehen musste?

Zu den Vorarbeiten der Künstlerin gehört auch, das richtige Bild zum richtigen Modell zu finden. Das Resultat ist nicht nur der fotografierten Person verpflichtet, sondern auch einem übergeordneten Thema, dass unser Menschenbild, unsere Werte und Normen hinterfragt.

 

Welche Rolle spielt dabei die historische Vorlage? Zunächst gibt sie dem Modell eine Bildwürdigkeit, die zuvor Helden, Heiligen und hochrangigen, reichen Persönlichkeiten vorbehalten war. Die Pracht und Besonderheit der Inszenierung heben die porträtierte Person heraus, verleihen ihr eine Wertigkeit und Wichtigkeit. Vor allem aber legt Makris hier zwei Wertesysteme übereinander, die sich aneinander reiben und überlagern. Was ist normal? Was ist Schönheit? Jede Norm, jedes Schönheitsideal ist kulturimmanent und der jeweiligen Zeit geschuldet – eine Mode eben. Das New Yorker Model Melanie Gaydos wurde mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte und einem Gendefekt geborenen, der die Haare nicht wachsen lässt und Nägel, Zähne, Haut und Knochen in ihrer Entwicklung hemmt. „Ektodermale Dysplasie“ heißt diese Krankheit und sie kommt glücklicherweise nicht so oft vor, dass man von einer Norm sprechen könnte. Auch das Model Rick Genest, auch als Zombie Boy bekannt, entspricht kaum dem Durchschnitt und hält (obwohl bereits verstorben) diverse Rekorde was seine Tätowierungen betrifft. Die körperlichen Besonderheiten sind nun aber genau der Grund, warum die beiden für Sylwia Makris‘ Arbeit interessant wurden.

 

Die Frage nach einem Schönheitsideal stellt sie damit gewissermaßen grundsätzlich in Frage. Die Inszenierung im Sinne der Alten Meister gibt den Modellen etwas Geheimnisvolles, fast Märchenhaftes, hebt sie damit aus der Zeit heraus und fragt damit nach dem Überzeitlichen oder Zeitlosen von Schönheit.

 

Auch das Rollenverständnis als Norm stellt Makris in ihrer Arbeit infrage: Das um 1460 entstandene „Porträt einer Dame“ von Rogier van der Weyden setzt die Künstlerin mit dem Model Elliott Sailors um, das durch sein androgynes Aussehen sowohl für Frauen- als auch für Männermode modelt und sich selbst als gender-fluid beschreibt, sich also auf keine Geschlechtsidentität festlegt. Wenn ich es richtig erkannt habe, ist Elliott Sanders auch auf dem Kampagnen-Bild zu sehen, das nach dem Porträt von „Ana de Mendoza, Prinzessin von Eboli“ von Alonso Sánchez-Coello entstanden ist. Welche Rolle spielt das Geschlecht? Heute? Damals? In Zukunft?

 

Die historische Vorlage reibt sich nicht nur an dem dargestellten Sujet, sondern auch am Format. Die Form des Altars zum Beispiel hebt alles dort Dargestellte automatisch in einen religiösen Kontext. Ein ikonisches Werk wie der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald schwingt beim Betrachten immer mit. Und last but not least  steht auch das gewählte künstlerische Medium im Dialog mit dem Vorbild. Die Fotografie und die Möglichkeiten der digitalen Bearbeitung sind ganz dem Heute verpflichtet und stehen der Malerei gegenüber, die in dieser Form zwar heute noch existiert, aber eben auch für die Alten Meister steht. Makris setzt Fotoapparat und digitale Bearbeitung so ein, dass das Endergebnis einem Gemälde täuschend ähnlich ist. Das Chiaroscuro, das Helldunkel eines Caravaggio, nimmt sie genauso auf wie den geheimnisvoll-neutralen dunklen Hintergrund von Cranach oder Rogier van der Weyden. Die Glätte der Haut und der Oberfläche war für die Alten Meister möglicherweise schwieriger herzustellen als für die Künstlerin heute am Computer. Fotografie oder Malerei? Die Medien verschmelzen miteinander. Jede Arbeit wird in einer Auflage von drei Stück hergestellt, dann aber noch einer aufwändigen handwerklichen Bearbeitung unterzogen. In sieben Schichten werden Lacke, Pigment und am Schluss Wachs aufgetragen. Das Craquelé entsteht durch einen besonderen Lack, reiht sich in den historischen Bezug des Werks ein und täuscht uns über die Entstehungszeit des Werks. Letztlich wird auch das Heute hier als historische Einheit gesehen, das morgen bereits wieder Vergangenheit ist. Das betrifft auch das künstlerische Medium. Von dem Fotografen Christian Weiß, mit dem Sylwia Makris eng zusammenarbeitet, habe ich den Hinweis, dass er sich Gedanken darüber macht, wie ihre Arbeit in der Zukunft aussehen wird, wenn die Generierung von Bildern durch eine KI immer besser wird und ihre Arbeit damit in Frage stellt. Ein irgendwie beunruhigender Gedanke. Ist das dann noch Kunst?

 

Kunst ist es vor allem dann, wenn Fragen aufgeworfen werden, die uns und unsere Gesellschaft betreffen, und die ihr Medium hinterfragt. Ob eine KI das kann? Sylwia Makris‘ Arbeit kann das auf sinnliche und lustvolle Art und Weise. Die Künstlerin spielt mit unseren Denkmustern, Rollenverständnissen und Normen in Pracht und Herrlichkeit losgelöst von Zeit und Raum. Mit ihrer opulenten und verführerischen Inszenierung und den Mitteln der Bildbearbeitung arbeitet sie heraus, was bleibt: die Würde des Menschen, seine individuelle Schönheit – wenn man sie sehen möchte.

 

Birgit Wiesenhütter

cb

Christoph Bauer M.A.

Kunstmuseum Singen

 

Einführung in die Ausstellung:

MATTHIAS HOLLÄNDER – Malerei und Fotografie

 

Mittwoch, 30.11.2022, 19.30 Uhr

Galerieverein Galerie der Stadt Wendlingen am Neckar

 

 

Sehr geehrter Bürgermeister Weigel,

lieber Matthias,

sehr geehrte Damen und Herren des Galerievereins Wendlingen,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ich freue mich Sie in die ganz eigene Welt des Malers, Grafikers und Fotografen Matthias Holländer einführen zu können, der Ihnen in der Galerie Ihrer Stadt sowohl einen retrospektiven Einblick in sein gesamtes Schaffen seit den 1980er Jahren, zugleich aber auch ganz neue, jüngst erst im Atelier entstandene Arbeiten vorstellt.

 

Holländer, der von 1973 bis -78 an der Akademie der bildenden Künste in Wien Malerei studiert hat und am Bodensee lebt und arbeitet, hat sich mit seiner außergewöhnlichen Malerei und mit seiner künstlerischen Fotografie, die gern mit Begriffen wie „Hyper- oder Fotorealismus“, mitunter gar „Phantastischer Realismus“ etikettiert wird, einen Namen gemacht. Dabei ist der „bekennende Realist“ Holländer seit den 1970er Jahre beharrlich einen eigenen Weg gegangen – auch durch Zeiten hindurch, in denen eine dem Realismus verbundene Malerei als obsolet galt.

 

Holländer selbst schätzt die genannten Schubladen-Etikettierungen ganz und gar nicht. Das ist verständlich, führt doch der Rekurs auf „den“ Realismus – insbesondere dann, wenn „Realismus“ mit „Realität“ gleichgesetzt wird – weg von den Inhalten und Qualitäten seiner Kunst. Will sagen: Matthias Holländer möchte keinen Beifall von falscher Seite, nicht allein für die „bloße“ Kunstfertigkeit seiner Arbeiten bekommen.

 

Sicher, Holländer ist ein skrupulöser Maler, der seine in langwierigen Arbeitsprozessen entstehenden Gemälde in feinster Lasurmalerei Schicht für Schicht aufbaut, dabei teilweise auch wieder abträgt, bis all die durchkomponierten Stillleben, Landschaften, Architekturen und Oberflächen bis auf den Grund durchscheinend werden. Und tatsächlich ist Matthias Holländer auch ein skrupulöser Fotograf, der seine analogen wie digitalen Fotografien in komplizierten Schritten und Experimenten zu piktoralistischen Tableaus anreichert und verdichtet. Erst dann werden sie auf feinste Fine Art Print-Papiere so differenziert ausgedruckt, dass sie ihrer Tonwerte, Details und Übergänge wegen nicht selten wie klassische Stiche anmuten.

 

Aber – und das zu betonen ist wichtig – Matthias Holländer versteht Technik als virtuosen Selbstzweck, sondern als Mittel für die Inhalte seiner Kunst. Aus diesem Grunde hat er sie über Jahre individuell verfeinert und erweitert, um sie souverän zur Gestaltung seiner Bildwelten einsetzen zu können.

 

Damit aber stehen die zentralen Fragen im Raum: Was können wir, die Betrachter, hier sehen? Was vermag uns Holländers Kunst zu geben?

 

Matthias Holländer, der aus einer Mediziner-Familie kommt, zeigt Ihnen in dieser Ausstellung spiegelnde Scheiben, undurchdringliche Hecken, reflektierende Gläser, verfallende Architekturen, leere Räume, stoffliches Licht, Früchte, Wurzelhölzer, Häute, Präparate, historische Schausammlungen, Naturalienkabinette, Moulagen, feinste Craquelés. All diese gezeigten Gegenstände stehen zur genauesten Beobachtung vor ihren Augen still. Der Mensch ist abwesend, bleibt dennoch über die hinterlassenen Gegenstände anwesend. Dem einen oder anderen von ihnen mag das morbid vorkommen.

 

Aber, so möchte ich entgegen: Matthias Holländer ist ein Maler-Fotograf, dem es gelingt, uns an jene Membrane zu führen, an denen sich Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, Dinglichkeit und das Unbedingte, hypergenaue Gegenständlichkeit und undurchdringliche Chiffre begegnen. Und da wird es interessant! Wir schauen Holländers Bildgegenstände, aber – und das ist der Moment des Staunens und des Erkennens – wir durchschauen sie nicht. In diesem Sinne sind Holländers Bilder nicht realistisch, sondern – vergleichbar den Vanitas-Stillleben der Alten – allegorisch und metaphysisch.

 

„Wir suchen“, sagt Novalis, „überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ Auch der „Maler des Lichts“, Matthias Holländer, weiß um die Vergeblichkeit seiner, ja jeder Annäherung an die Dinge. Das hindert ihn aber nicht, seinen obsessiven „Realismus bis zum Auffallenden“ (Adolf Muschg) weiter zu treiben. Das hat etwas Vergebliches, unnötig ist dieses Streben nach Erkenntnis aber nicht. Und so agiert der Künstler Holländer stets am Kipppunktrat zwischen einer unablässig sich weiter steigernden Durchdringung einerseits und illusionärem Schein der Oberflächen andererseits. Holländers Auseinandersetzung mit den Dingen lässt sich exemplarisch ein auf die Grenzen nicht nur des Künstlers, sondern des Menschen überhaupt: Was meint sehen? Wie ist Wahrnehmung beschaffen? Kann ich überhaupt erkennen?

 

Die besondere Qualität der von Holländer gestalteten Bilder ist, dass in diesen Bildern Wirklichkeit eben nicht zitiert, Natur nicht nachgeahmt wird, sondern dass hier die Recherche über die Differenz zwischen Gegenstand, Abbild und Bild zum eigentlichen Thema gemacht wird. Realismus ist hier keine Frage der Gestaltungsweise, sondern eine Art des Zugangs zur Welt. Dem Sehen selbst, dem Aufscheinen und Verschwinden aller Dinge, gilt Holländers Interesse. Holländers komplexer Realismus ist untrennbar mit dem Nachdenken über die menschliche Wahrnehmung, das Werden von Bildern und über die Möglichkeiten jeden Erkennens verbunden. Jedes Bild ist eine Welle, die insistierend an der Natur alles Geschauten nagt.

 

Die Schriftstellerin Alissa Walser hat diese Haltung in poetischere Worte gefasst: „Aus Matthias Holländers Bildern spricht der tiefe Wunsch, etwas mit uns zu teilen. Etwas Existentielles. Sie machen keine Angst. Sie stellen einfach etwas fest, was sich anders nicht feststellen lässt: Dass wir, wie sie selbst, vergehen, während wir noch schauen, im Schauen vergehen.“

 

© Christoph Bauer

Guenter_Baumann

Take 5 – Gruppenausstellung der Ateliergemeinschaft Kulturpark Dettinger

Galerieverein Wendlingen, 21.09.2022

 

Einführungsrede, gehalten von Dr. Günter Baumann

 


Take Five heißt die aktuelle Ausstellung in der Galerie der Stadt Wendlingen – ich freue mich über die Möglichkeit, ein wenig über die Kunst dieser fünf Künstler*innen zu sagen: WERNER FOHRER, IBRAHIM KOCAOGLU, VERENA KÖNEKAMP, WOLFGANG THIEL und MANUELA TIRLER. Seid alle herzlich gegrüßt.

 

Sehr geehrte Damen und Herren, Herr Bürgermeister Weigel, liebes Team des Galerievereins, es ist schön, wieder einmal in diesem schönen Haus zu sein. Take Five: Was diese Maler und Bildhauer vereint, sind ihre Ateliers in der ehemaligen Mühlsteinfabrik Dettinger und ihr gemeinsamer Auftritt als Ateliergemeinschaft Dettinger Park. Die im Titel ausgegebene Parole macht deutlich, dass es hier um eine Freundesgruppe geht – weniger eine Künstlergruppe mit Manifest und gemeinsamer Botschaft als eine kollegiale Arbeitsgemeinschaft. Der Abklatschgestus beim Take Five mag sozusagen die typische Handbewegung sein. Take Five ist auch der Titel eines legendären Musikstücks für Saxophon von Dave Brubeck, dem wir eben lauschen durften / noch lauschen dürfen – ich begrüße hier auch Jochen Feucht.

 

Take Five – und Naschen ist gesund, möchte ich noch hinzufügen. Das stimmt zwar nicht mit dem einst berühmten Werbeslogan überein, aber macht nichts: Das klingt nach einer kunterbunt zusammengewürfelten Truppe, aber das wäre nur der Hinweis auf den visuellen Genuss, diese Werke anzuschauen. Es geht um mehr. Apropos Naschwerk, da muss ich etwas ausholen. Der Grund, warum ich so gern bereit war, in die Ausstellung einzuführen, war zum einen, dass ich drei der fünf Teilnehmenden schon länger kenne. Besonders mit Wolfgang Thiel verbindet mich eine geschätzt 42jährige Freundschaft – er war nicht unwesentlich daran beteiligt, dass ich mich auf das Abenteuer der Kunst einließ. Und irgendwann sagte er zu mir – als ich noch meinte, man könnte die Kunst gar nicht so recht überblicken: Sie sei noch nie so vielfältig gewesen wie heute, das heißt: auf damals bezogen, und meint: bis heute. So können wir mit den Augen und auch mit einigem ästhetischen Rüstzeug frohgemut naschen am Bilderreichtum insgesamt und an dem dieser Ausstellung. Fünf Positionen, fünf verschiedene Arbeitsweisen, fünf individuelle Künstler*innen. Vor knapp über einem halben Jahr hätte ich noch gesagt: fünf freie Geister, die ihr Ding machen. Heut möchte ich es ergänzen: fünf freie Geister, die exemplarisch stehen für die Freiheit der Künste, für die Freiheit an sich.

 

Bei meiner letzten Eröffnung in diesem Haus hatte der Vernichtungskrieg Putins gegen die Ukraine begonnen – es ging und geht ihm auch um die Vernichtung der Kultur des Landes. Und zugleich schmiedet er ein Bündnis mit den übelsten Potentaten in der östlichen Hälfte des Erdballs, die vor Folter nicht zurückschrecken, um ihre verblendeten Ideologien durchzusetzen. In diesem Wirtschaftskrieg, den Putin auch losgetreten hat, in dem wir uns übrigens längst befinden – das nur an die Adresse derjenigen, die meinen, wir hätten nichts mit der Ukraine zu schaffen – in diesem Krieg werden wir schlimme Zeiten erleben. Aber die Künste werden zumindest im freien Westen auch frei bleiben. Das ist gut so. Das ist wichtig. Die Kunst muss nicht politisch sein. Sie kann im Werk der Künstler*innen genauso aussehen wie vor dem Krieg oder vor Corona oder wie immer schon. Und doch können, müssen wir die Kunst heute anders denken und betrachten. Und was sagte Wolfgang einst noch zu mir: die Welt gehört den Zweifelnden. Es ist Teil der Freiheit, dass man sich irren kann, ja auch, dass man scheitern kann. Und niemand wird dafür verurteilt oder bestraft.

 

Ich will im Folgenden über die Freiheiten im Werk dieser fünf Kunstschaffenden plaudern – mit einer eigenen Unfreiheit im Umgang: ich wähle die alphabetische Ordnung. Zur Orientierung: Die Straßenszenen aus dem US-amerikanischen Alltag stammen von dem Esslinger Maler Werner Fohrer, der dieses Jahr sein 30jähriges Atelierjubiläum in Plochingen feiern kann: Es sei vielleicht noch erwähnt, dass der Kulturpark Dettinger im Jahr 1992 für die Kunst geöffnet wurde. Die gestisch-situativen Landschaften sind von Ibrahim Kocaoglu, der in Ankara geboren ist und von 1980 bis 1986 in Stuttgart studierte, von wo er in den Esslinger Raum zog. Die Textilkünstlerin und Designerin Verena Könekamp – wir sehen von ihr hier diese leuchtstarken Lichtobjekte – stieß später zur Plochinger Atelier-Gang, arbeitete lange als Auftragskünstlerin, bevor sie sich der freien Kunst zuwandte. Wolfgang Thiel, Mit-Initiator des Dettinger-Park-Geschehens, stammt laut Wikipedia aus der kleinsten kreisfreien Stadt Deutschlands, aus dem Pfälzischen Zweibrücken, hat seine bildhauerischen und landschaftskünstlerischen Spuren im Südwesten Deutschlands und in Südfrankreich gelegt – mal grell bunt, mal in sich gekehrt präsentieren sich seine Skulpturen hier in der Ausstellung. Noch eine Vertreterin der Bildhauerei macht das Fünfer-Bild perfekt: Die Pokorny-Schülerin Manuela Tirler, die seit 2010 ihr Atelier in Plochingen hat, arbeitet vorwiegend mit Stahl, der Ihnen hier sehr eindrücklich entgegenwächst.

 

Die Tatsache, dass es so viele Realitäten zu geben scheint, wie Meinungen, die sich zwischen subjektiver und objektiver Ausprägung gerade nicht wirklich gut verorten lässt, hat in der Kunstgeschichte immer wieder Realismen hervorgebracht, die seit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert deutlich zunahmen. Bei aller Motivgenauigkeit wurde eins deutlich: unsere Wahrnehmung ist vielfältig, was den Künstlern die Freiheit gab, ihren je eigenen Realismus zu pflegen. Werner Fohrer macht aber genau dies fraglich, indem er die Subjektivität oder mehr noch die Künstlichkeit gerade des Hyperrealismus zum Thema macht. Seine Auswahl für Wendlingen umfasst Porträts und regelrechte Nicht-Porträts. Bei seinen VIPs und selbst bei Menschen aus seinem Bekannten- und Freundeskreis setzt er einen fotografischen Realismus ein, der in den USA seinen Ursprung hatte und nicht nur im Werk von Franz Gertsch auch im deutschen Sprachraum für Furore sorgte. Fohrers Bildnisse reizen aus, wie weit man mit Verwischungen und Überblendungen gehen kann, bevor ein fotogenaues Gesicht ins Abstrakte kippt. So viel Freiheit muss sein. Seit 2015 entstehen diese kleinerformatigen Porträts von Musikern und Schauspielern: hier sind es David Gilmour, Jorja Chalmers und Cherisse Osey. Dazu kommen Arbeiten aus der seit 2018 entstehenden Serie der sogenannten Streetlifes. Ein Aufenthalt in den USA hat Fohrer nachhaltig geprägt. Doch entgegen den eher statischen Vorbildern aus der hyperrealistischen Szene in New York geht es ihm um Bewegung und bewusst um die Anonymisierung der Menschen. Partien der Gesichter scheinen sich zu entmaterialisieren, Spiegelungen verunklären die Positionen der Gestalten. Fohrer macht kein Hehl daraus, dass er sich die Vorlagen von Google-Mapp zu eigen macht, gibt mit den genauen Adressangaben auch ein Bekenntnis dazu ab. Doch hier zeigt sich die Bedeutung des Werks. Szenen aus beliebigen Alltagssituationen mischen sich mit eigenen Fotografien: Menschen in Bewegung, im Gespräch, beim Shopping oder auf anderen Wegen durch die Stadt, mal kleine Gruppen in der Totalen, mal größere Gruppen aus der Fernsicht. Bezeichnenderweise sind die Gesichter weitgehend unkenntlich gemacht, was aber erst in der Nahsicht deutlich wird. Manche Bilder heißen »Artifi-cial Life«, um uns gleich zu sagen: Was ihr hier seht, ist Kunst. Die Realität selbst ist uns Medienjunkies und Virtualitätsrealisten längst abhanden gekommen.


Sich frei von der Realität zu machen, scheint auch im Werk von Ibrahim Kocaoglu ein Ziel zu sein. Ich lasse in der Regel die Lehrernamen bei gestandenen Künstlern gern weg, da sie ihren eigenen Weg längst gefunden haben. Im Fall von Kocaoglu will ich doch darauf hinweisen, dass Rudolf Schoofs ihn wesentlich geprägt hat. Dieser hat sowohl die Natur- wie auch die Stadtlandschaft ganz von der akribischen Naturbeobachtung abgezogen. Dahinter steht eine Erkenntnis, dass wir immer viel mehr sehen, als uns die Augen im Augenblick der Betrachtung einfangen – es gibt klare und verschwimmende Erinnerungen, es gibt Geräusche und Gerüche, Assoziationen und gänzlich zufällige Eingebungen. Kocaoglus Arbeiten entstehen in langen Prozessen. Natur wird zur künstlerischen Schöpfung, die aus energetischen, spontanen oder spielerischen Impulsen heraus aus ihm herausdrängen. Während Schoofs sich von der Fremde inspirieren ließ und seine Eindrücke in aller Flüchtigkeit zu Papier und auf die Leinwand brachte, imaginiert Kocaoglu seine türkische Heimat aus der Ferne. Die zuweilen karge Natur, auch das eine oder andere Erdbeben werden zu Seismographen seiner und in übertragenem Sinne unserer Gedächtniskultur. Beachten müssen wir auch den geometrischen Impuls, der den Bildern innewohnt: Flächen und Linien bestimmen den Malakt, aus dem Organisches oder Gebaut-Komponiertes entwächst. Der Künstler selbst vergisst keinesfalls die konkrete Landschaft, wie er sagt: allen Motiven lägen konkrete Räume zugrunde, sie sind allerdings aus dem Inneren heraus geschöpft. Und wer mit dem Maler spricht, spürt, dass er ein eher stiller, introvertierter Zeitgenosse ist. Das erklärt seine poetische Bildsprache. Die Farbigkeit der Mischtechniken auf Büttenkarton ist ganz bei sich, folgt einem subjektiven Stimmungsbild, das sich zum Gedankenraum einer nicht minder stimmungsvollen, verinnerlichten Landschaft formt. Ibrahim Kocaoglu ist ein Reisender zwischen den Kulturen, und das ist nicht nur biografisch oder künstlerisch zu verstehen. Er ist auch beim Lindenmuseum Mitarbeiter, was natürlich auch dem Broterwerb dient. Doch wird seine Phantasie die kulturellen, anthropologischen und sozial-historischen Verflechtungen nutzen, um auch die Komplexität, die Durchdringung und die interkulturellen Vernetzungen und Missverständnisse als Niederschlag auf formale, farbliche und lineare Spannungen und Harmonien auf dem Papier widergespiegelt zu wissen. Die häufigen Schichtungen und Kreisformationen legen zudem symbolische, wenn nicht kultisch Räume nahe. Ein weites Feld, kann man hier nur sagen.


Werner Fohrer war so frei, die Realität an ihren eigenen Grenzen zu messen, Ibrahim Kocaoglu verlegte die Natur in einen innerlichen Schutzraum des Geistes. Verena Könekamp setzt ganz am gegenstands- und motivlosen Moment an, um Stimmungen in der absoluten Abstraktion zu inszenieren – nahezu ausschließlich über die Farbe. »inside out« nennt sie ihre Lichtobjekte. Wer deren Zauber erlebt, kann gut verstehen, dass die Auftrags-Künstlerin im klinischen, thera-peutischen und psychiatrischen Kontext gefragt ist. Die freie Künstlerin kann guten Mutes auf den ästhetischen Kontext bauen, den zum Beispiel die Galerie der Stadt Wendlingen bietet – und wer möchte nicht gern in seinem Zuhause eine Atmosphäre, die uns bei allen leid- und arbeitsvollen Belastungen wieder ins Lot bringt. Die Farbe geht, so Könekamp, direkt in die Seele – das mag einem kranken wie einem gesunden Menschen gleichsam wohlig unter die Haut gehen. Hautähnlich wirkt auch der textile Stoff, auf dem sie ihre lichthellen Farben aufdruckt, hinterleuchtet von LEDs. Der elastische Garnmaterial bietet ihr die ideale Basis für ihre rauschhaft dahinfließenden, tonalen Farbfelder, und das Gewirke führt auch dazu, dass die Siebdrucke nicht einfach wiederholbar sind – die Arbeiten sind also durchaus Unikate, die in der Rhythmik der Serie allerdings von einer bestechenden Magie sind. Zurecht hat man die ikonenhaft- meditative Wirkung beschrieben angesichts der völlig in sich und aus sich herausstrahlenden Stoffkörper. So kam auch der Titel der Werkreihe „Inside out“ zustande. Der Siebdruck dient Köne-kamp nicht nur für ihre leuchtstarken Objekte, sondern auch für Papierdrucke mit Aphorismen und Gedichten aus der Weltliteratur, bei denen Text, Schrift und gestalterische Elemente zur Einheit verschmelzen. So sehen wir hier in und außerhalt eines Kreises mit tiefblauen, grünen bis schwarzen Landschaftsanmutungen in nüchterner Schrift geschrieben: »In den Tiefen des Winters erfuhr ich schließlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt.« Welch trostreicher Satz des existenzialistischen Autors und Philosophen Albert Camus. Wir sollten uns diesen Satz für die anstehenden Monate immer wieder ins Bewusstsein rufen. Oder ein Gedicht der atemberaubend stillen Dichterin Hilde Domin, über ein paar zarten Grashalmen notiert: »Nicht müde werden / sondern dem Wunder / leise / wie einem Vogel / die Hand hinhalten«.

 

Die sinnenfrohe, wenn man so will lustvolle Farbigkeit nehme ich mit, wenn ich zum Werk Wolfgang Thiels komme. Es fällt mir hier schwer, ganz neutral über die Person hinweg die Plastiken anzusteuern. Es kommt mir vor, als hättest du dich in den vier Jahrzehnten, die ich dich kenne, im Wesen verändert – immer konzentriert auf die plastische Form, die auch noch die malerischen und keramischen Arbeiten bestimmt, immer mit einem Schalk im Nacken, der ihm selbst wohl, aber auch uns Betrachtern seiner Kunst ins Ohr flüstert: es geht immer weiter, und nicht zuletzt immer duldsam, wenn sich ein Freund etwa drei dieser vier Jahrzehnte rastlos durch die Welt der Literatur und der Kunst eilt und auch mal eine halbe Ewigkeit vergeht – und wenn man sich dann trifft und das Gefühl hat, man hätte sich erst neulich gesehen. Und demgegenüber das Ringen um die künstlerische Form. Ich erinnere noch die schwankend ausbalancierenden Gipsplastiken des jungen Kunsterziehers, die immer größer werdenden Figurationen, vorwiegend weiblicher Gestalt: engbrüstig schmal, im umgekehrten Werdegang zu Giacomettis entmaterialisierten Figuren übten sie sich in Standhaftigkeit, die Schultern wurden breiter, inspiriert von den Modemagazinen kam Farbe hinzu, grellgelb und rot und anders betupfte Körper, die überschwänglich wurden, freudvoll sich erhebend angesichts der wachsenden Familie, die Bewegung der Figur wurde folgerichtig zur Silhouette, die sich überdimensional ganzer Gärten, Hausterrassen und Firmengelände bemächtigten – mit dem stets überlegten Problem der Statik, der Balance wie ehedem, woraus auch die Faltungen entstanden: der Körper, der sich aus der Farbfläche im Raum positioniert. Aus der Art scheinen die neun gelben Hüte aus Steinharzguss zu sein, die der Leidenschaft für die weibliche Figur einen machoartigen Gegenentwurf entgegensetzt: der englischsprachige Titel lässt Deutungen zu: 9 Männer, die nun geradezu unterirdisch ihr Wesen treiben müssten, oder die einem Sprichwort gemäß »so klein mit Hut« sein könnten, was deren scheinbare Dominanz doch schmälern würde. Im Titel weiter sind 9 Hüte aufgeführt, was nun eindeutig zu erkennen ist, aber lassen Sie mich hier nicht ausführen, dass diese möglicherweise eine weibliche Symbolik haben könnten (dazu wissen die Damen dieser Ausstellungsriege mehr zu sagen), was an der Männlichkeit kratzt wie die Kerbe in den Hüten. Der Titel zählt noch 9 »minds« auf, was Geist, Verstand, Kopf und anderes mehr heißen könnte, gekrönt von dem vierten Titelwort »1 thought«, ein Gedanke – wohl dem, der diesen benennen kann. Hintergründig sind die Arbeiten Wolfgang Thiels immer, so vielschichtig, dass der ironischen Deutung stets auch eine ernste Gegendeutung innewohnt, ich denke nur an die Collage „henris Sündenpfuhl“, eine Hommage an Henri Matisse, die manche Kleingeister heute womöglich gern verbieten würden wegen irgendwelcher Vorwürfe der Unziemlichkeit. Oder ist der zitierte Blick auf Lucas Cranachs drei Grazien sexistisch? Thiel liebt »heikle Begegnungen“, wie eine Zweifigurengruppe oberhalb des Treppenaufgangs signalisiert.
 

Die Fünferbande wäre nicht komplett, wenn ich nicht noch zu den Stahlplastiken von Manuela Tirler weitergehen würde. Sie erhielt 2009 den Gerlinde-Beck-Preis, benannt nach der innovativen Stahlbildhauerin Gelinde Beck, die früh die Männerdomäne der Stahlbehandlung eroberte und neue Wege wies. Da dieser Preis in der Galerie Schlichtenmaier beheimatet ist, wurde Manuela Tirler Galeriekünstlerin. Wenn Sie sich umschauen – im Untergeschoss finden Sie noch weitere Arbeiten – fällt sofort etwas auf. Tirlers Werk sucht den Einklang des schweren, kantigen, sperrigen Stahls mit der grazilen Leichtigkeit und Präsenz der Natur. Der Reiz liegt auf der Hand: »Eigentlich«, so sagt Manuela Tirler, »interessiert mich gerade der Widerspruch und der Widerstand des Materials, da diese naturnahen Formen dem harten Material fremd sind. Aber der Stahl birgt zugleich auch die Möglichkeit der Vereinfachung und Klärung der Form auf das Wesentliche.« Die Formensprache ›in Stahl‹ ist abstrakt, sie vermag aber durchaus elementare Aussagen im konkreten Bezug des Gewachsenen zu machen. Manuela Tirler bringt zentnerweise Eisengezweig zum Sprießen, mal in krudroter Rostblüte, mal in verzinktem Glanz oder mal im Kern einer schwarzen Brünierschicht. Manuela Tirler geht nicht zimperlich mit ihren Ob-jekten um, lässt auch mal den Bagger anrollen, aber sie respektiert die ›Natur‹ des Materials. Sie bevorzugt Industriestahl, dem nur noch schwer beizukommen ist. Doch auch er lässt sich modellieren, plastisch bearbeiten – aber kann man dem Stahl nicht einfach seinen Willen aufzwingen, wie das beim Stein oder Holz noch denkbar wäre. Die Anglizismen in den Titeln sind Programm: verfremdend und klanglich wie schlagwortartig vielschichtig. Man denke an die »Tumbleweeds«. »To tumble« heißt soviel wie »schwanken, wogen, durcheinander wehen, sich überschlagen, hin- und herrollen«, und »weed« ist schlicht Unkraut, ein unerwünschtes Gewächs. Die »Tumbleweeds« ergeben jene Steppenpflanzen, beim Wildwest-Film Karriere machten – als Inbegriff der Ödnis und verlassener Orte: Die Zeit scheint still zu stehen, und nur das trostlos-trockene Gezweigknäuel bestimmt das Handlungsmoment. Im Werk Tirlers meinen wir Rankelgewächse an den Wänden zu sehen, buschwerkähnliche oder aufgeschüttete Zweighäufen oder »leaf Veins«, Blattadern, die natürlich nichts anderes sind als Stahlvernetzungen, die in Konkurrenz mit der Natur treten.


Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Freiheit in der Kunst stand im Mittelpunkt meiner Ausführungen. Gerade diese Ausstellung lässt uns die Vielfalt der künstlerischen Auseinandersetzung erkennen, die uns allen selbstverständlich ist. Sie ist es nicht! Als Garant einer freien Gesellschaft, die von den extremistischen Rändern unterwandert zu werden droht, braucht die Kunst ihre Freiräume, um ihrerseits die Fahne des pluralen Denkens hochzuhalten. Und sei es nur, um die Macht der nicht zu bändigenden Phantasie zu demonstrieren. Den Thielschen Huttitel mag ich hier abändern. 3 men and 2 women, no hat, 5 minds, 1 thought. Bitte Obacht: über die Hüte könnten Sie bei Wein und Häppchen stolpern, und Vorsicht auch bei der naheliegen-den Plastik Manuela Tirlers mit dem gefährlich anmutenden Titel »Weed Carnovore«, sie könnte beißen. Die Künstler*innen stehen uns aber bestimmt unverrückbar, standfest und wohlgewogen für Gespräche bereit.

 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Günter Baumann, September 2022

b.w.

Michel Friess – German Pop Art

Galerieverein Wendlingen, 22.09.2021

 

Einführungsrede, gehalten von Birgit Wiesenhütter

 

 

Die Pop Art lebt. Das kann man mit Fug und Recht sagen, wenn man sich hier in den Räumen des Galerievereins Wendlingen umschaut. Bunt und lebensbejahend holen uns die Werke von Michel Friess in eine schrille Welt aus Farbe im american style, bevölkert von sympathischen Comic-Figuren, Ikonen aus Kunst, Film und Politik, Werbung und Street Art-Elementen.

Es ist zunächst die Wirkung der Bilder, die einen regelrecht mitnimmt, farbenfroh knallig und mit einem unübersehbarem Sinn für Humor zaubern sie den Betrachtern beinahe automatisch ein Grinsen ins Gesicht.

 

Michel Friess begann seinen künstlerischen Werdegang als Street Art Künstler und war zwischenzeitlich als Werbegrafiker tätig, bis er sich 2008 zu 100% der Pop Art verschrieb. Seitdem entstehen in seinem Loft-Atelier in Kaiserslautern Arbeiten unter dem Label „German Pop Art“. Bekannt wurde er mit Portraits berühmter Zeitgenossen wie Angela Merkel oder Udo Lindenberg, mittlerweile hat er international Erfolg.

Die Pop Art, die Mitte der 1950er Jahre in Großbritannien entstand, feierte in den 1960er Jahren in den USA einen unglaublichen – auch kommerziellen – Erfolg und hatte sich international durchgesetzt. „Pop Art“ lässt sich einerseits von „popular art“ ableiten, im Sinne einer Kunst für die Massen, andererseits aber auch vom englischen Wort „pop“ für Knall. Damit ist das Effektvolle, Überraschende, schnell Verständliche angesprochen, das die Pop Art sucht, aber auch ein Wort, das häufig in Comics erscheint.

Unter den Heroen, die Michel Friess‘ Werke beherbergen, gibt es einen, der (zumindest in dieser Ausstellung) gar nicht selbst im Bild auftritt, aber umso präsenter ist: Andy Warhol. Wie kein anderer Künstler hat Andy Warhol die Pop Art geprägt. Ab 1963 entstanden seine Multiples im Siebdruckverfahren, die die berühmten Campbell‘s Suppendosen, Cola-Flaschen, Dollarscheine und andere Artikel der Konsumwelt abbildeten, aber auch Stars wie Marilyn Monroe und Elvis Presley oder Werke der Kunstgeschichte wie die Mona Lisa. Wen oder was Warhol abbildete erhielt damit die Weihe einer Pop-Ikone. Damit revolutionierte Warhol die Kunstwelt, machte Kunst zur Massenware, verband „High“ und „Low“, also Hochkultur und Trash zu einer Einheit. Anders gesagt – und um es im Sinne von Beuys auszudrücken, den Warhol sehr schätzte: er verband Kunst und Leben.

Unverkennbar ist Warhol ein wichtiges Vorbild für Michel Friess, der dessen Werke vielfach zitiert und sich an seiner Vorgehensweise orientiert. Im Gegensatz zu Warhol allerdings legt Friess Wert auf komplette Handarbeit. Er fertigt jedes einzelne Sieb für den Handsiebdruck selbst an – pro Bild kommen dabei teilweise über 20 verschiedene Siebe zum Einsatz. Seine Werke entstehen in einer Mischtechnik aus Handsiebdruck, Malerei, Airbrush mit der Spraydose und Papiercollagen – ein aufwändiges Verfahren, bei dem eine Liebe zum Detail sicht- und spürbar wird. Bildträger kann sowohl Papier, als auch Leinwand oder Aluminium sein. Das Aluminium nutzt der Künstler auch gestalterisch, indem er es anschleift, Strukturen in die Bilder bringt, die mit dem Motiv als Lichteffekt oder Strahlen interagieren können (wie zB bei „Superjesus“, Nr. 16). Zugleich verleiht er dem Bild damit aber auch einen Objektcharakter. Viele Arbeitsprozesse und Schichten wirken in den Bildern zusammen.

 

Der Künstler verknüpft aber nicht nur verschiedene Techniken, sondern auch unterschiedliche Bildwelten zu einem Ganzen. Street Art und Pop Art gehen in seinen Bildern eine Einheit ein, die sich durchaus selbstironisch zeigt und humorvoll die Ebenen miteinander verknüpt. Für „Super Jesus“ – hier im Barockrahmen – nützt der Künstler als Ausgangsmotiv eine Herzjesudarstellung. Die Liebe Jesu Christi wird dort normalerweise als strahlendes Herz symbolisiert, das Jesus offenlegt und auf das er hindeutet. Stattdessen wird dieses Geste hier umgedeutet und erinnert daran, wie Clark Kent im Comic bzw. Film zu Superman wird: er reißt seine Kleidung auseinander und darunter kommt der Superheld hervor. Statt des Herzens erscheint das Signet von Superman. In seiner rechten Hand hält Jesus einen Pinsel mit roter Farbe – nicht ein Leidenswerkzeug Christi, eher ein machtvolles Instrument, das aus einem einfachen Mann einen Superhelden macht – wenn auch nur, indem das entsprechende Emblem aufgemalt ist. Ob Jesus nun tatsächlich als Held verherrlicht wird, oder nur der Kult als solcher ironisch dargestellt ist, bleibt ambivalent - ähnlich der grundlegenden Frage, ob die Pop Art der 1960er Jahre nun den Konsum verherrlicht oder eine kritische Haltung zum amerikanischen Wohlstandstraum eingenommen hat. Man kann darin beides sehen. In dem „Superjesus“ von Michel Fries lebt diese Ambivalenz ebenfalls, man kann darin aber auch eine Verherrlichung der Kunst und ihrer Möglichkeiten sehen quasi eine Art ästhetische Religion.

Die Macht des Bildermachens wird in Michel Friess‘ Arbeiten allgegenwärtig, indem sie Dinge miteinander verbindet, die so eigentlich nicht zusammengehören. Woodstock, der Vogel-Freund von Charly Brown sitzt auf der Hand von Paulchen Panther, Betty Boop, die quirlige sexy Zeichentrick-Ikone, wird in „Ultimate Legends“ eingerahmt von Marilyn, Audrey Hepburn und der Mona Lisa, wobei Charly Chaplin als Tramp, Elvis und James Dean ebenfalls dabei sind. Vorne im Bild ist als ultimative Legende eine Trage Coca-Cola-Flaschen zu sehen und verweist auf Andy Warhol, der sinngemäß sagte: eine Cola/Coke ist eine Cola, kein Geld der Welt bringt dir eine bessere, der Präsident trinkt Cola, Marylin Monroe trinkt Cola und du kannst auch eine Cola trinken. („A coke is a coke and no amount of money can get you a better coke than the one the bum on the corner is drinking. All the cokes are the same and all the cokes are good. Liz Taylor knows it, the President knows it, the bum knows it, and you know it.”) Coca Cola ist also etwas, das ‚High‘ und ‚Low‘ miteinander verbinden kann, ein Gegenstand, der noch so unterschiedliche Menschen auf eine Stufe bringt. Und so verbindet auch Michel Friess alles miteinander, das ihm am Herzen liegt.

 

Eine wesentliche Verbindung gibt es zur Street Art. Da ist einmal das Street Art-Motiv des ‚Funky Monkey‘, eins Affen mit Kopfhörern, dem Friess eine Warhol-Perücke verpasst und eine Spraydose in die Hand gegeben hat. „Think Pink“ sprüht er uns entgegen und zugleich in der Fläche des Bildes sich an die Stirn. Solche positiven Botschaften begegnen uns in Michel Friess‘ Arbeiten immer wieder. „Follow your Heart!“ oder „We think too much and feel too little“. Und überhaupt scheint Pink eine besondere Farbe für den Künstler zu sein. Nicht nur der rosarote Panther taucht immer wieder auf, auch aus der Campbell‘s-Dose quillt Pink Panther Soup als pinke Farbe – die Welt darf ruhig ein bisschen mehr rosa sein.

Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Friess seinen Arbeiten perspektivisch große Tiefe verleiht, und so eine Außenraum-Situationen darstellt? (z.Bsp. Nr. 23 „Chaplin – we think too much ...“, Nr. 1 „Ultimate Legends“). Er schafft damit eine Situation im Bild, die er wie ein Street Art Künstler nutzen und noch darüber hinaus gehen kann. „Post no Bills“ finden wir auf vielen Bildern als Messgage – keine Rechnung einreichen. Ein Grundsatz der Street Art ist, dass sie frei und ohne kommerziell zu sein für jeden da ist – alle sind vor der Street Art gleich. Nicht, dass der Kunstmarkt dafür nicht schon wieder neue Möglichkeiten gefunden hätte ... (wie sicherlich viele in Bezug auf den Street Art-Künstler Banksy mitbekommen haben). Aber das ist ein anderes Thema. Sowohl Street Art als auch Pop Art standen und stehen für eine Demokratisierung der Kunst, für eine Kunst, die jedem zugänglich ist. Wenn sie sich dann wie bei Michel Friess in einer Leichtigkeit selbstironisch, witzig, glamourös und optimistisch darstellt, dann macht das einfach Spaß.

 

Angelehnt an Andy Warhol, der einmal sagte „Everything is beautiful. Pop ist everything“ schreibt sich Michel Friess quasi als Motto auf seine Homepage: „Everything is Pop and Pop is everything! Pop Art is my love and my live!“ Die Durchdringung von Leben und Kunst ist hier vollzogen. Lassen wir uns davon inspirieren.

 

 

 

b.Wiesenhüter

 

Kunst in der Region – Positionen zur Zeichnung
Manuela Beck, Eva Bosdorf, Karl-Heinz Bogner, Annie Krüger, Anja Luithle
Galerie der Stadt Wendlingen, 20.09.2020

 

Einführungsrede, gehalten von Birgit Wiesenhütter

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

Im Rahmen der Ausstellungsreihe „Kunst in der Region“, die abwechselnd in Wendlingen, Nürtingen und Kirchheim ausgerichtet wird, präsentiert die Galerie der Stadt Wendlingen in diesem Jahr die Ausstellung „Positionen zur Zeichnung“. Ausgewählt, um mit ihren Arbeiten einen Einblick und Überblick in das künstlerische Schaffen hier in der Region zu geben, sind die Künstlerinnen Manuela Beck, Eva Bosdorf, Annie Krüger und Anja Luithle und der Künstler Karl-Heinz Bogner. Alle fünf haben an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart in unterschiedlichen Disziplinen studiert und von dort aus den Weg für ihre künstlerische Entwicklung gefunden.

Ihre Arbeiten stehen für die Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten von Zeichnung und zugleich auch für die Eigenständigkeit, die dieses Medium mittlerweile erlangt hat.

 

 

zu Manuela Beck

„Es hat lange gedauert, bis ich der Zeichnung einen eigenständigen Wert in meiner Arbeit beigemessen habe.“ bemerkt Manuela Beck. Dass sie die Technik des Zeichnens perfektioniert hat, ist jedoch auf den ersten Blick zu sehen. Doch die Technik ihrer Wahl war zuvor die Radierung – genaugenommen die Aquatinta, eine Radiertechnik, bei der durch Flächenätzungen verschiedene Grauabstufungen möglich sind. Sie ist wohl die Tiefdrucktechnik mit der malerischsten Wirkung. In diesem Druckverfahren hat die Künstlerin jahrelang ausschließlich gearbeitet und Zeichnung allenfalls zum Skizzieren eingesetzt. Daher hängt nun auch als Ausnahme in dieser Ausstellung eine Aquatinta-Arbeit im OG, quasi als Ausgangspunkt für die Zeichnung, mit der die Künstlerin sich nun beschäftigt und die sie spielerisch und experimentell auslotet.

 

Zentrale Elemente ihrer Bildfindung bleiben für Manuela Beck auch in den Zeichnungen wesentlich: die Repetition eines Motivs in einer Serie und die Repetition eines Motivs innerhalb einer Arbeit. Beispielhaft dafür ist eine Arbeit im OG: Der Umriss einer Frauengestalt wird als Schablone genommen und aneinandergereiht zu immer neuen Mustern, die in kreisförmiger oder überlagernder Anordnung Ornamente ergeben, die nur manchmal die Ausgangsform noch erkennen lassen. Die Ausgangsfigur, die Frauengestalt, hängt als wirklichkeitsgetreue Zeichnung daneben.

 

Manuela Becks Zeichnungen beeindrucken auf den ersten Blick durch ihre perfekt illusionierende Technik und die Raffinesse ihrer Motive. Illusion und Irritation gehen dabei Hand in Hand. Als Bild im Bild sind gefaltete Bögen mit Motiven genauestens dargestellt. Durch die Faltung ist das Motiv auf den Bögen verunklärt – dessen Darstellung ist nicht das Hauptanliegen. Wichtig erscheint der Objektcharakter des gefalteten Bildes, das auch in den Umraum Schatten wirft. Es ist das Bild des Bildes, das auch Objekt ist – eine Art doppelte Illusion. Ein Spiel um die Frage, was ein Bild ist, ein Spiel auch mit Raum und Fläche.

 

Gegenständlichkeit ist bei Manuela Beck nicht Selbstzweck ihrer Arbeiten. So ist eine Serie mit Zeichnungen einer Hand zugleich ein Spiel mit der Linie als gestalterisches Grundelement der Zeichnung. Irritierende Streifen, die wie ausgespart das Blatt durchschneiden, sind Teil eines Fadenspiels. Das Fadenspiel ist ein altes Kinderspiel, bei dem ein Faden zur Schlinge geknotet mit Hilfe der Finger zu dreidimensionalen Objekten wird. Der Faden ist hier eine Linie im Raum. Die perfekt illusionistisch gezeichneten Hände stehen im Gegensatz zur wie ausradiert erscheinenden Linie, die den Faden repräsentiert.

 

Irritationen, verfremdende grafische Elemente, die wie Störfaktoren in der Illusion wirken, lassen uns beim Betrachten von Manuela Becks Zeichnungen innehalten und unsere Wahrnehmung hinterfragen. Hinter Manuela Becks vordergründigen Illusionszeichungen stecken konzeptuelle Überlegungen zum Bild, zur Technik des Zeichnens und den Elementen der Zeichnung.

 

 

zu Eva Bosdorf

Die Tuschezeichnungen Eva Bosdorfs fangen das Licht ein – nicht nur mit dem metallischen Glanz der Silbertusche. Es sind Zeichnungen, die an die Malerei des Impressionismus denken lassen. Eva Bosdorf verdichtet in den kreisenden Formen Licht- und Schattenreflexe, denen sie während des Zeichnens in der Natur direkt ausgesetzt ist. Unter einem Baum sitzend notiert sie das Spiel des Lichts, das durch die Zweige fällt. Bereits beim ersten Strich verändern sich die Lichtpunkte, die durch Laub und Geäst fallen. Wie die lichten Flecken wandern, entwickelt sich auch das Bild weiter. Linien überlagern sich, verschwimmen zu Flächen, die im metallischen Glanz der Silbertusche wiederum Licht reflektieren. Die Veränderlichkeit des Lichteinfalls wird hier zum Phänomen von Materie und Zeit. Zeit, die verrinnt und sich in Veränderung ausdrückt, Zeit, die sich in Tusche und Papier manifestiert und Bild wird. Flüchtigkeit wird hier wie ein Tagebucheintrag mit Zeitangabe festgehalten. Damit macht Eva Bosdorf auch ihren Schaffensprozess transparent.

 

Im Obergeschoss stößt man direkt auf ihre Fadeninstallation, einem Zeichnen im Raum, das sich zugleich auch auf den Raum und seine Grenzen bezieht. Die Künstlerin spannt an der Wand Fäden von Nagel zu Nagel. Nur von einem bestimmten Standpunkt aus ist diese Fadenzeichnung als durchgängige Linie zu sehen, die auch über Raumvorsprünge und Ecken fortläuft. Sobald man den Standpunkt verändert, ist das Erscheinungsbild ein anderes, die Perspektive zersplittert.

 

Ausgangspunkt für diese Faden-Linien ist der Raum hinter der Wand. Seine Erscheinungsform wird wie das Schnittmuster des aufgeklappten Raumes an die Wand gebracht, die diesen Raum zu uns begrenzt. Die Flächen kippen auseinander, die Raumperspektive wird aufgebrochen und der Raum als solcher in die Fläche aufgelöst. Die Wand selbst ist Teil des Motivs und Bildträger zugleich.

 

Das entstandene Fadennetz wirft Schatten als flüchtige Zeichnung an die Wand. Es ergibt sich ein Linienspiel, das durch eine an Intensität wechselnde Beleuchtung dynamisiert wird. Hinter dieser Zeichnung aus Fäden und Schatten findet sich in vielfacher Ausführung ein silbern spiegelndes Wort: „ich“. Es verzweigt sich ein Geflecht aus „ichs“ wie ein Rhizom, dessen Potential an Vernetzungsmöglichkeiten unendlich erweiterbar scheint. „Ich“ ist dabei jeder Betrachter selbst, der sich im Wort wie auch im metallischen Silber spiegelt. Und weil jeder von uns sich selbst im „ich“ erkennt, ist „ich“ zugleich ein jeder von uns. Jeder verortet sich in seinen Beziehungen und seinem Standpunkt und Blick auf die Welt immer wieder neu. Eine Reflexion, die wir in letzter Zeit durch die coronabedingte Veränderung des Miteinanders vermutlich alle selbst erfahren haben.

 

Eva Bosdorfs Arbeiten liegt ein stimmiges Konzept zugrunde, in dem sich der Mensch als Selbst in seiner Wahrnehmung in Raum und Zeit aber auch in seinem Beziehungsgeflecht verortet. Zeit wie auch Raum wird erst in der Begrenzung erfahrbar und fassbar. Beides erkundet und thematisiert Eva Bosdorf in ihren Arbeiten. Licht in seiner Veränderlichkeit und Dynamik ist der energetische Schub, der ihren Papierarbeiten eingeschrieben ist und in ihrer installativen Arbeit als real erfahrbares Element die Flüchtigkeit der Wahrnehmung und den Wechsel des Standpunktes als feine aber grundlegende Veränderung erfahrbar macht.

 

 

zu Karl-Heinz Bogner

Karl-Heinz Bogners Arbeiten sprechen die Sprache von Architekturzeichnungen, aber sie sind keine. Jeder Versuch, hier konkrete Entwürfe für Gebäude oder architektonische Lagepläne für ganze Bebauungen erkennen zu wollen, scheitert, weil Bogner dieses Scheitern-müssen als Strategie seiner Bildfindung nutzt.

 

Der Künstler, der an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Architektur und Design studiert hat, arbeitet mit formalen Elementen, die an Raum- und Landschaftsstrukturen, an Grundrisse, Lagepläne oder Ausgrabungsstätten erinnern, aber er arbeitet zugleich auch gegen sie an. Immer wieder sind seine Arbeiten kurz davor, konkret zu werden, sich doch als Architektur-zeichnung zu outen, doch dann löst sich alles wieder auf.

Bogners Arbeiten bringen unsere Sehgewohnheiten durcheinander. Damit verunsichert der Künstler den Betrachter und gerade da wird es spannend. Man möchte sich an formalen Elementen festhalten, die an Bekanntes erinnern, doch die architektonischen Chiffren gerinnen nicht zu semantischen Zeichen, verweigern eine Bedeutung und bleiben damit abstrakt.

 

Der zeichnerische Prozess ist intuitiv, nichts ist geplant. In sich überlagernden Schichten baut Bogner regelrecht das Bild auf. Der technischen Exaktheit setzt er gestisch-abstrakte malerische Elemente entgegen. Gestisches wird wieder in Struktur eingebunden. Mit dem Lineal gezogene Linien korrespondieren mit Freihandlinien, strenge Geometrie mit organischen Formen. In diesem Prozess setzt er Schicht über Schicht – transparente Archäologie, die abstrakten Topografien aus der Vogelperspektive ähnelt. Dahinter steht die Vorstellung von Raum, von einer imaginierten Architektur, einem erfundenen Raum, der offen und Fragment bleibt. „Mich interessiert das Unfertige, das Fragmentarische, das Provisorische, Räume, die sich im Entstehungsprozess befinden“ sagt Bogner.

 

Karl-Heinz Bogners Arbeiten zeugen von einer Lust am Fabulieren und Erfinden und transportieren damit die Poesie, die einer Utopie eingeschrieben ist. Mögliches oder Unmögliches bringt der Künstler in eine zeichnerische Formensprache, die sich am Habitus der Architekturzeichung orientiert. Formal und inhaltlich bewahren die Arbeiten Distanz, sind nicht fassbar oder konkretisierbar, sondern bleiben abstrakt und offen.

 

 

zu Annie Krüger

Zeichnung, Malerei und Installation spielen im Werk der Künstlerin Annie Krüger gleichermaßen eine Rolle und sind kaum voneinander zu trennen. Der Inkpen, also der Tuschestift, ist ihr Zeicheninstrument. Mit ihm zieht sie Linien, deren Erscheinungsbild malerische und grafische Qualität gleichermaßen hat und die Grundelement und Impuls ihrer Arbeiten sind. Dabei ist der Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Überlegungen der Raum.

 

So geht ihre Installation im OG ganz direkt von dem konkreten Raum aus, für den diese konzipiert ist, und reflektiert ihn auf vielfache Weise. In der Dachschräge greift Krüger einen Wandkeil und dessen Geometrie auf und baut diesen wie ein Echo des realen Raumelements aus Papier. Isoliert als Keil liegt er auf dem Boden, in einer seiner Ecken sind Linien, die die Künstlerin zuvor mit dem Inkpen gezogen hat, aus dem Papier geschnitten und von der Künstlerin auf den Keil parallel zur Außenwand drapiert. Die ausgeschnittenen Linien sind zweifach vorhanden: als Leerstelle im Keil und als ausgeschnittene Papierstreifen, die eine gegenläufige Zeichnung ergeben. Positiv- und Negativform, Material und Leerstelle korrespondieren miteinander. Wie ein Vorhang hängt von der Innenwand ein Bogen Papier dessen geschnittene Linien wie Fransen herabhängen. Allerdings gehen die Schnitte nur bis zu einer schrägen Kante, deren Winkel die Kante des Keils gegenläufig aufnimmt. Die herabhängenden Papierstreifen greifen wie die Streifen des Keils die Kante der Außenwand auf.

 

Raffiniert verschränkt die Künstlerin hier Raum, Fläche und Linie vielfach miteinander, greift immer wieder Raumkanten und Winkel des Raumes in ihrer Arbeit auf, setzt Linien und Flächen zueinander in Beziehung. Geometrie ist dabei grundlegend für Annie Krüger. Ihre Arbeit ist ein Spiel mit Geometrie. Sie beschäftigt sich mit Verschiebungen und Winkeln, die generell gerne von Standards abweichen: statt 90° bevorzugt sie 93°.

 

Im gleichen Raum nehmen Papierstreifen Raumkanten auf. Parallel zur Wand sind sie mit etwas Abstand entlanggeführt. Sie repräsentieren die einzelne Linie als Grundelement. Die eingefärbte Rückseite wird dabei von der weißen Wand farbig reflektiert – ein formales Spiel mit großem sinnlichen Reiz.

 

Annie Krügers Aufmerksamkeit für Raum und ihr Spiel mit dem Material eröffnen immer wieder unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema. Sie fasst dies nicht nur rein geometrisch auf, sonder auch gefühlsmäßig. Das Formale und das Sinnliche verschränken sich in ihren Arbeiten. Die Linie ist Papier und Farbe, Raum und Materie und fügt sich kompakt und filigran zugleich zur Zeichnung.

 

 

zu Anja Luithle

Einigen von Ihnen, verehrte Damen und Herren, werden vermutlich die Arbeit „Gratwanderin“ von Anja Luithle kennen. Sie steht auf dem Dach des Hauses der Geschichte in Stuttgart. Es ist die Figur eines roten Kleides, das dort unbehaust steht oder sich hin und her bewegt und damit das Fehlen der Person, die es tragen müsste, gleichsam thematisiert. Anwesenheit und Abwesenheit ist ein großes Thema, das das Werk der in Wendlingen lebenden Künstlerin durchzieht.

 

Ihre hier gezeigten großformatigen Zeichnungen glänzen wiederum mit der Abwesenheit des Leiblichen. Stoffe in unterschiedlichen Dekoren knäulen sich in Kulen und Faltentälern oder türmen sich hoch zu Wellen und Gebirgen auf. Diese Faltenlandschaften lassen offen, ob sich unter ihrer Oberfläche etwas verbirgt. Damit sind sie mit einem Geheimnis besetzt, das im Gegensatz zur eigentlichen Banalität des Motivs steht. Der Stoff an sich mag im Zusammenhang zu Luithles Arbeiten mit Kleidungsstücken gesehen werden können. Hier ist er jedoch nicht Kleidung, die ‚zweite Haut‘. Es könnte sich genau so gut um Handtücher, Laken oder sonstige Stoffe handeln. Trotzdem korrespondieren diese Stoffe mit dem Menschen. Nicht nur durch den Herstellungsprozess, sondern auch durch ihre ihnen eigene Ästhetik. Ob chinesischer Dekor, Blumenmuster oder aufgeräumte Streifen, Ornament oder geometrisches Muster – jeder Stoff transportiert einen kulturellen Hintergrund und besitzt seinen eigenen Charakter. Er führt gewissermaßen ein Eigenleben, das sich formal im Faltenspiel und Dekor zeigt, dann aber auch eine Gefühlsebene anspricht: Exotik, Wohlgefühl, Kühle, Sicherheit, Intimität sind nur einige der Ausdruckswelten, in denen sich Luithles Stoffgebirge bewegen. Damit sind sie letztlich doch Stellvertreter von Abwesendem, kreisen um Identität und Erinnerung.

 

Der Stoff ist bei Luithle ein Stellvertreter, der von unterschiedlichen Seiten, von Verstand und Gefühl, formalen und inhaltlichen Aspekten besetzt werden kann und sich in einer surrealen, sinnlichen und ästhetischen Atmosphäre auf seine jeweils eigene Art und Weise reizvoll als Landschaft ausbreitet.

 

 

Zeichnung hat in diesen fünf Positionen nichts mehr zu tun mit einem skizzenhaften Hilfsmedium, sondern behauptet sich erfinderisch und forschend in Raum und Zeit, Realität und Vorstellung. Die hier gezeigten Arbeiten schlagen Brücken zu Malerei, Installation und Architektur und führen uns nicht zuletzt auch das konzeptuelle Potential der Zeichnung vor Augen. Es ist ein reiches und aktuelles Spektrum, das diese Ausstellung reflektiert, und das von den klassischen Bildgattungen Landschaft, Stilleben, Portrait, Genre oder gar Historienmalerei völlig abgerückt ist zugunsten von Abstraktion, Ortsbezogenheit und Konzeptualität.

 

 

Birgit Wiesenhütter

 

 

 

KB

Einführungsrede zu: Susanne Janssen – Märchen, Mythen, Metamorphosen – Galerie der Stadt Wendlingen, 07.02.2020, Dr. Katrin Burtschell

 

Sehr geehrte Gäste, liebe Susanne Janssen,


Blumen, Pflanzen, Märchen, Mythen, Peter Pan, Hänsel und Gretel, Odysseus Irrfahrten , Gebete, biblische Darstellungen – Vertrautes entfaltet sich hier in den Galerieräumen. Die großformatigen Blumendarstellungen von Susanne Janssen ziehen uns magisch an, doch es wäre eben nicht das Werk von Susanne Janssen, wenn sie uns einfach gefällige, schöne Blumenzauberwelten, oder die vertrauten Märchenfiguren, die ihrem Schicksal ausgeliefert sind, zeigen würde. Wir würden es wohlwollend wahrnehmen, die Fertigkeit der Künstlerin bewundern, aber es würde nichts mit uns tun, nicht in unser Innerstes vordringen. Es würde gefallen, aber nicht bewegen. Diese Bilder aber tun genau das, sie bewegen uns, unsere Gedanken und auch Emotionen. Es sind die Brüche in den Darstellungen, das Ungewohnte, das Unerwartete, das uns aufweckt, unser Interesse weckt und das auch die künstlerische Qualität dieser Arbeiten ausmacht.


Die aus Aachen stammende und im Elsass lebende Künstlerin hat in Düsseldorf an der Hochschule für Gestaltung bei Wolf Erlbruch studiert und illustriert seit vielen Jahren, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Bücher. Die Grenzen zwischen Malerei und Illustration sind bei Susanne Janssen fließend. Schon immer hat sie gemalt, meistens in Öl und schon immer war es ihr wichtig, dabei einen Text oder ein Thema zu haben. Eines dieser Themen sind bei ihr seit jeher Märchen. Mit Märchen sind wir alle groß geworden, sie gehören zu unserem kulturellen und geistigen Erbe. Selbst diejenigen, die nicht in direkten Kontakt mit Märchen kommen, oder je gekommen sind, sind mit bestimmten Bildern, Situationen, Metaphern und Gleichnissen wohl vertraut. Genauso verhält es sich mit der griechischen Mythologie, der Odyssee und der Illias, sie prägen unsere Geisteswissenschaften, unser humanistisches Verständnis. Ebenso ist es mit den Protagonisten der Bibel, mit Gebeten, die wir von der Kindheit her kennen. Für unsere Generation noch ganz selbstverständlich, ist es doch für die Generation unserer Kinder oder Enkel eine Welt, die in Auflösung begriffen ist. Eine Welt die am Verblühen ist.

 

Diesen Augenblick kurz vor dem Verblühen, den fängt die Künstlerin durch ihre satte Malerei in Ölfarben ein und gibt dadurch den Motiven eine eindrückliche Bedeutung. Sie kennen es vielleicht selbst, wenn sie Schwertlilien oder Amaryllis zuhause in einer Vase stehen haben, dann werden die Blüten ganz schwer und fangen an zu tropfen. Dieses Übersatte kurz vor dem Verblühen, ist in den Arbeiten aus Collagen und Malerei sicht- und spürbar. Und selbst in den zarteren Radierungen ist dies zu erfassen. Etwas steht in voller Blüte, es wirkt schön und anziehend auf den ersten Blick und offenbart auf den zweiten Blick plötzlich ein Unwohlsein, etwas Bedrohliches und manchmal auch Ernüchterndes.


Erschaffen, verwerfen, wiederbeginnen all das begegnet uns in den Klebespuren, den Bleistiftstrichen, den Brüchen und Übergängen der Collagen. Wie dreidimensionale Gebilde entfalten diese Arbeiten etwas haptisches und unperfektes, was sie in ihrer Authentizität nur umso stärker werden lässt. Sie lassen die Naturstudie hinter sich und werden zu erzählenden Welten, die von Momenten des Umkippens, von Umbrüchen, Metamorphosen – Verwandlungen berichten. Das ist das große übergreifende Thema, das die Bilder hier auf allen Etagen miteinander verbindet. Alles erlebt eine Veränderung eine Transformation, Verwandlung, alles erzählt. Vielleicht ist es das, was die Künstlerin am meisten reizt darzustellen, dass alles im Prozess, in Wandlung ist, dass nichts erstarrt in Schönheit.

 

Schönheit dieser Begriff hat mich bei der ersten Begegnung mit den Arbeiten von Susanne Janssen am meisten beschäftigt. Der erste Eindruck von Schönheit, ja auch Zartheit wird bei der näheren Betrachtung umgewandelt. Die Arbeiten entfalten sich, werden vielschichtig, sie treten aus dem Rahmen heraus an den Betrachter heran.


Dieser Eindruck ist auch vorhanden bei den vier Frauendarstellungen oben im Flur. Es sind vier der Darstellungen aus dem Zyklus der Grossen Töchter Gottes, die 2015 in der Kathedrale von Moulins gezeigt wurden. Vor blutrotem Hintergrund, mit geometrischen Elementen versetzt, sehen wir Frauen sinnlich, stolz und trotzig wie Judith, die uns die blutige Hand entgegenstreckt, oder die eher in sich gekehrte Magdalena, die Frau der Salbung. Die Frauentypen und ihre Schicksale stehen im großen Gegensatz zu den gegenüberliegenden Darstellungen aus dem Gebetsbuch Behüte mich auch diesen Tag. Diese Darstellungen erinnern fast an altniederländische Andachtsbilder, mit ihrer Aufsichtsperspektive und den anmutigen schlichten Figuren. Auch hier verwendet die Künstlerin geometrische Elemente Kreise, Linien und Spiralen die weicher wirken als die starre blutige Geometrie auf der Gegenseite.


Hier zeigt Susanne Janssen, dass sie das Spiel mit Schönheit und Sinnlichkeit, Zartheit und Verletztheit auf der einen Seite und Grausamkeit auf der anderen Seite meisterhaft versteht. Ebenso entfaltete sie dieses auch in den Hamlet Darstellungen. Das Sichtbarmachen der Arbeitsspuren und Klebestreifen, nimmt den Arbeiten den Pathos. Als Leser der Bücher können wir diese Spuren nur erahnen, im Original sind sie dominanter und sichtbar. Hier wird die Illustration zum eigenständigen Kunstwerk. Brüche und Spuren, das Unperfekte, das Sichtbarmachen der Collagenübergänge, das zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Durch den vielschichtigen Wald von Hänsel und Gretel bis zu den großformatigen Pflanzenmotiven, ja sogar zu den Radierungen.

 

Die Möglichkeiten der Collage übt auf die Künstlerin eine besondere Faszination aus. „Das Verbinden von fast freier Malerei und Collage, der Kontrast realistischer und malerischer Elemente, in dem auch der Zufall eine sehr große Rolle spielt, ist für mich ein Mittel, Bilder zu erfinden, die ich noch nie zuvor gesehen habe…. das ist es was ich suche.“ So die Künstlerin in eigenen Worten. Sie steht damit durchaus in der Tradition der Collage, wie sie die Surrealisten und Dadaisten, vor allem Max Ernst verwendet haben als Mittel zur Darstellung des Unbewussten.


Janssens Schaffen ist geprägt von der unaufhörlichen Suche nach einer neuen Bildsprache. Sie verschiebt Perspektiven durch den Raum und evoziert einen verzerrte Zweidimensionalität. Sie arbeitet mit Ölfarben, die in mehreren Schichten aufgetragen werden, schneidet Figuren aus, fügt sie wieder ein und erzielt so ein irritierendes Ineinanderwirken von Flächigkeit und Räumlichkeit, von Traum und Realität.

 

Janssen illustriert nicht einfach nur, sondern sie eröffnet mit ihren Bildern ganz eigene Wege zum Sinn der literarischen Werke. Es ist ihre Interpretation, ihre Wahrnehmung von Zwischentönen von Nuancen. Eigentlich sind ihre Bilder wie die Schichten des vielschichtigen Waldes in Hänsel und Gretel bildhafter Ausdruck des Zwischen den Zeilen Lesens.

 

Für Hänsel und Gretel wurde die Künstlerin 2008 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Susanne Janssen eröffnet mit ihren Bildwelten eine völlig neue Wahrnehmung der Grimmschen Märchen. Sie dringt durch ihre Darstellungen vor in eine viel vielschichtigere und vor allem richtigere Wahrnehmung von Märchen, weg von unserer heute verniedlichenden Märchenwahrnehmung und deren Entschärfung für Kinder. Sie ist fasziniert von und interessiert an den Hintergründen, an dem was sich unter der Oberfläche abspielt. „Märchen wie Hänsel und Gretel und Rotkäppchen sind nun mal keine harmlosen, unbedarften Geschichten. Es geht dort um Leben und Tod. Und doch mehr um das Leben als um den Tod, um das Überwinden des Todes, dessen was mich unfrei macht und mich hindert erwachsen zu werden.“ Mit diesem Zitat der Künstlerin im Kopf, bitte ich Sie die Bilder und den Gesichtsausdruck der Kinder Hänsel und Gretel nochmal genau zu studieren. Vor allem die Szene, in der Gretel die Hexe in den Ofen stößt, der Gesichtsausdruck ist stolz und selbstbewusst. „Das Treffen auf die Hexe und die Chance diese zu überwältigen, das ist die große Befreiung.“


Janssens Figuren wirken in ihrer Deformierung verstörend. Hänsel und Gretel sind fast ununterscheidbar androgyn, der Vater zum Skelett abgemagert, hilflos, die Mutter kühl, distanziert, die Hexe imposant, wie eine Dame, die um ihre Außenwirkung weiß. Im tiefroten Kleid wirkt sie erotisch und sinnlich und abstoßend zugleich. Das Rot des Kleides taucht symbolhaft in der Wunde des Hirsches, der als Symbol der Vorahnung zu der Geschichte hinführt, wieder auf.


Stellt sich die Frage ist das Kindertauglich? Generationen von Kindern haben diese Märchen gehört und ausgerechnet heute, wo wir eine völlige Banalisierung von Gewalt erfahren, muss man sich als Eltern Strafpredigten von Erzieherinnen anhören - ich spreche hier aus eigener Erfahrung – wenn man es wagt, dem Kind beispielsweise den Original Struwwelpeter vorzulesen. Die Hexe bei Hänsel und Gretel wird in modernen kindgerechten Adaptionen nicht mehr verbrannt, sondern ins Altenheim geschickt. Dabei fasziniert die Kinder, das was uns Erwachsene so abschreckt. Kinder verstehen unbewusst, dass die Todesbedrohung der Heldin und des Helden zum Entwicklungsweg gehört und das Geschehen überhaupt erst recht in Gang bringt. Die Märchencharaktere sind nicht nur Abschreckung, sondern auch Vorbilder, die Vertrauen stärken. Vorbild darin, einen schwierigen Weg zu gehen, die Mut machen, auch unmöglich erscheinende Aufgaben zu lösen.

 

Susanne Janssen ist zum Glück überzeugt davon, dass man das auch Kindern zumuten kann. Die Sinne berühren, die Seele, das Sein, das bedeutet für die Künstlerin Sinnlichkeit. „Kinder brauchen das und brauchen vor allem gute Kunst“, keine schöne Kunst, um an den Eingangs erwähnten Schönheitsbegriff zu erinnern. Und Das Bilderbuch ist die erste Kunstgalerie, die ein Kind betreten kann“ so die Künstlerin.


Sinnlichkeit, die begegnet uns auch in der wunderschönen spinnenden Kalypso aus der Odyssee. Subtil klingt die Kraft der Weiblichkeit durch in all den Frauendarstellung von der Hexe über die böse Mutter, über die biblischen Frauen bis hin zu ihr, der Nymphe. Das Motiv, der Faden spinnenden Kalypso, zieht sich für mich wie eine zeichnende Linie hin zu den Frauenstudien hier im Erdgeschoss, die sich auch in einem Gewirr aus Fäden und Linien verlieren. Les dames des onzes heures sind benannt nach einer Blume, die nur einmal am Tag ihre Blüten öffnet. Eine dieser Frauen befindet sich inmitten einer der großen Pflanzencollagen. Ähnlich wie die Protagonisten der Märchen, ist sie gefangen im Wald, oder wie Odysseus in den Fängen der schönen Kalypso, die ihn umgarnt.


Die Künstlerin entfaltet in diesen Szenerien ein starkes Sinnbild für Herausforderung, Transformation und Veränderung, die alles andere sind als nur Märchen, sie sind Analogien zu unseren Lebenssituationen.

 

 

 

 

 

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Ingeborg van Loock / HATE Hirlinger:

"Farbe - trifft auf Stahl"

Einführungsrede, 20. November 2019

gehalten von Birgit Wiesenhütter

 

'Farbe' und 'Stahl', so ist es im Titel vermerkt, treffen in dieser Ausstellung aufeinander. Präsentiert werden in den Räumen des Galerievereins Wendlingen eine malerische und eine bildhauerische Position: Ingeborg van Look arbeitet mit Farbe, HATE Hirlinger mit Stahl. Es ist nicht die erste gemeinsame Ausstellung der beiden Künstler, was dafür spricht, dass ihre Werke auf irgendeine Art und Weise zueinander passen, was noch zu erörtern sein wird. Gemeinsam ist den Arbeiten – das ist schnell klar – der Verzicht auf Gegenständlichkeit.

 

Ingeborg van Look arbeitet gestisch-abstrakt, was das gleiche ausdrückt, wie die Begriffe 'lyrische Abstraktion' oder 'informelle Malerei'. Bezeichnet wird so eine Richtung in der Malerei, die sich nach dem zweiten Weltkrieg in den USA und in Europa entwickelt hat. Mit Jackson-Pollocks Drip-Paintings, Mark Rothkos Colorfield paintings und Willem de Koonigs figürlichen Abstraktionen schickten die Amerikaner damals sogar eine Wanderausstellung durch Deutschland, finanziert – das weiß man heute – vom CIA. Gedacht war sie als Umerziehungsmaßnahme, als politisches Statement im beginnenden Kalten Krieg. Die informelle Malerei des Abstrakten Expressionismus (wie diese amerikanische Variante der gestischen Abstraktion genannt wird) stand für Demokratie, Offenheit und Freiheit. Formal bildete sie einen absoluten Gegensatz zum heroischen Stil des 'Sozialistischen Realismus', der in der Sowjetunion und den dazugehörigen Bruderstaaten propagiert wurde. Auch in Europa wurde die Gegenstandslosigkeit zur angesagten Bildsprache, die sich von äußeren auf innere Ausdrucksinhalte verlegte. Geistige Impulse drückten sich in spontanen Gebärden unmittelbar aus und propagierten die Bedeutsamkeit des Formlosen.

 

Soviel zur Vorgeschichte. Was aber ist ein Bild für Ingeborg van Look? Ihre malerischen Arbeiten zeugen von einem gekonnten Umgang mit ihrem Material. Es wird gegossen, geschüttet, gesprüht, gespachtelt, mit Pinsel oder gar mit den Fingern vermalt. Das Bild baut sich in vielen Schichten auf. Es bezeichnet nichts und möchte nichts darstellen. Ob für die Malerin Impulse aus Natur und Landschaft kommen, spielt eigentlich keine Rolle – abbilden will van Look nichts davon. Trotzdem – oder zwangsläufig – ergeben sich die Assoziationen manchmal in diese Richtung. „Horizontale Streifen lassen den Betrachter immer irgendwie an Landschaft denken“ meint die Künstlerin selbst dazu. Farbe darf bei van Look ein kontrolliertes Eigenleben führen. Schüttungen, die zwar einfach aussehen, bedürfen viel Erfahrung, um der Farbe auch den entsprechenden Platz auf der Leinwand zuzuweisen. Der Zufall ist in diesem Prozess inbegriffen. Die Künstlerin reagiert auf ihn, spielt mit ihm, hat aber die Bildregie fest in der Hand. Die Bilder wachsen, Formen entstehen, grafische Elemente (manchmal auch mit Schablone gesprühte Formen wie die Kreise im UG auf dem Bild Utopie I) bringen auch wieder eine gewisse Festigkeit und Strenge ins Malerische. So hält die Künstlerin eine Balance aus Kontrasten, Formen und Farben. Bildtiefe entsteht und bricht sich wieder an der Flächigkeit einzelner Formen, an den grafischen Setzungen und Schüttungen.

 

Um zu verstehen, was für Ingeborg van Loock ein Bild ist, müssen wir auch ihre Fotografien betrachten, die sowohl als Einzelbilder gedacht sind, aber auch in Kombinationen mit Malerei gehängt und dann auch in diesen Kombination zu verstehen sind. Um es gleich zu sagen: Diese Fotografien sind absolut malerisch. Es ist ein Malen mit Licht. Auch hier geht es nicht um die Darstellung der Realität. Es ist uns aber bewusst, dass die Grundlage der Fotografien Lichtreize aus der Realität sein müssen. Sie sind verschwommen und unscharf und fokussieren damit auf die Qualitäten der Malerei, auf Farbklänge und Schattierungen. Die Fotografien sind Erscheinungen, die sich neben den Gemälden als gleichberechtigte und für den Betrachter inspirierende Partner erweisen. Inspirierend insofern, als sie uns neue Sehimpulse geben und unsere Wahrnehmung schärfen. Lässt van Loock in ihren Gemälden mit Farbe eine reale Welt entstehen, so lässt sie in ihren Fotografien die reale Welt in farblichen Lichtreizen zerfließen. Am Ende sind es Farbe und Form – des Gemäldes wie der Fotografie – worin sich beides trifft und befruchtet: eine geschaffene und ein abgeleitete Realität. Ingeborg van Loocks Arbeiten sind Bilder, die uns die Wirklichkeit von zwei Seiten zeigen und Bilder, die uns zeigen, was wir in der uns umgebenden Wirklichkeit sehen und wahrnehmen können.

 

HATE Hirlingers Arbeiten sind der geometrischen Abstraktion zuzuordnen. Hirlinger bezeichnet seine Arbeiten selbst als konstruktivistisch und minimalistisch. Konstruktivistisch, weil Grundlage seiner Arbeiten geometrische Formen sind. Kasimir Malewitsch stellte 1915 zum ersten Mal ein „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ aus und sagte später darüber: „Als ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellte ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld (…) Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“ – Natürlich war es noch viel mehr als das, aber das gehört nicht hierher. Aus der konstruktivistischen Kunst entwickelte sich de Stijl und in der Folge die konkrete Kunst. Auch und gerade dort geht es nicht ums Abbilden der Realiltät.

 

Hirlinger entwickelt seine Plastiken aus dem Dreieck, das somit Grundelement und Leitmotiv in seiner Arbeit ist. Das Material, aus dem seine Werke gefertigt werden, ist in der Regel Stahl – Edelstahl oder Cortenstahl, selten auch mal Aluminium. Er formt seine Arbeiten durch Schmieden, Schweißen, Ziehen, Schleifen und Lasern. (Die feinen und exakten Einschnitte sind nur so zu erreichen.) Es entstehen Biegungen, Faltungen, Spaltungen, Brechungen und Einschnitte. Wichtig ist dem Künstler eine absolut perfekte Ausführung. Nichts soll von den stimmigen Maßverhältnnissen, den spannungreichen Formen, der Dynamik des Zusammenspiels von Oberflächen und Raum ablenken. In vielen Arbeiten wird die Oberfläche oder Teile davon durch Polieren zum Glänzen gebracht. Damit bekommen sie einen entscheidenden energetischen Impuls, indem sie das Licht selbst miteinbeziehen. Wie dieses Konzept in Gänze aufgeht, können wir hier in der Ausstellung leider nur im Kleinformat erleben, mit Arbeiten, die auch als Modelle für große Plastiken gesehen werden können. Und: wir erleben diese Arbeiten im Innenraum. Wer neugierig ist, kann auf HATE Hirlingers Website die großen Plastiken im Außenbereich anschauen und wird feststellen, dass sich die umgebende Natur in der auf Hochglanz polierten Fläche spiegelt, dass sie damit Teil der Arbeit wird und die Arbeit wiederum Teil der Natur. Hier in der Galerie spiegelt sich der Innenraum im kleineren Format der Plastik. Bereits das ist ein Ereignis, bei dem der Betrachter die Welt in all ihren Facetten in den Facetten der geordneten maßvollen Formen Hirlingers finden kann. Die beiden Stelen vor dem Fenster im Obergeschoss kann man sich lebhaft in groß und im Außenbereich aufgestellt vorstellen. Im Spalt zwischen den Stelen erleben wir auch die Wirklichkeit als Auschnitt zwischen den geordneten Reflexionen. Die Umgebung wird in Hirlingers Arbeit zwangsläufig miteinbezogen. Die Spiegelungen auf der polierten Oberfläche geben der dreidimensionalen Welt um uns ein zweidimensionales Erscheinungsbild, die Plastik ist gleichsam eine Art Resonanzkörper der sie umgebenden Wirklichkeit, leiht ihr ihre Form und strukturiert sie.

 

In Hirlingers Arbeiten geht es nicht nur um eine „Vermessung der Welt“, es geht auch deutlich um Wahrnehmung: nur ein Knick, eine kleiner Eingriff in die perfekte Oberfläche und die Arbeit wird dreideimensional, sie reckt sich in den Raum, schafft unterschiedliche Ansichten, Korrespondenzen und Spiegelungen außerhalb und innerhalb des Werkes. Manchmal ergeben sich komplizierte Gebilde, deren Grundelement, das Dreieck, die Arbeiten immer nachvollziehbar macht, den Betrachter jedoch geradezu an die Grenzen der Wahrnehmung führt. Schauen Sie sich den Würfel mit dem polierten Einschnitt genau an – Anfassen leider nicht erlaubt! - Die Illusion, die entsteht, spielt geradezu mit unserer Wahrnehmung.
 

Wirklichkeit oder Illusion? Es geht um Sehen und Wahrnehmen – und ging es darum nicht auch bei Ingeborg van Loock? Es gibt keinen konkret vorgegebenen Rahmen, kein Wiedererkennen, sondern die Erfahrung. Der Betrachter ist auf sich selbst zurück geworfen. Seine Entdeckerfreude wird angesprochen. Darin treffen sich die Arbeiten der beiden Künstler. Dass es praktisch ist, einen Bildhauer und eine Malerin zusammen auszustellen kann ja schließlich jeder feststellen. Schön ist aber auch, dass van Looks Bilder in den Spiegelungen optisch Bestandteil von Hirlingers Arbeiten werden. Damit ist die Wirklichkeit ein weiteres Mal in van Looks Arbeiten gebrochen und
in Hirlingers Arbeit erscheint ein Stück Realität, das „eine weit vollkommener sichtbare Welt, als die wirkliche sein kann“ zeigt (um mit Goethe zu enden), nämlich die Malerei.


Birgit Wiesenhütter

 

 

 

 

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Rede zu „SONST FLÖGE ICH DAVON“ von Marko Schacher – gehalten am 3. April 2019

 

„Birgit Herzberg-Jochums Technik entspricht einer inhaltlich expressiven Ausdruckstechnik, auf das Wesentliche reduziert in der Formensprache, auf die maximale Bedeutung des Inhalts gebracht. Verzweigte Eindrücke von emotionalen Begegnungen, hintergründige Momentaufnahmen oder lösungsorientierte Sequenzen zeigen eine inhaltlich besondere Sichtweise in einer aktuellen Form der Collage. Das Ansinnen der Künstlerin ist, kurze innere Bilder in Gedanken zu formen.“


Dass ein Redner seine Vernissagenansprache mit einem Zitat beginnt, ist sehr üblich. Wenn es ausnahmsweise mal nicht Karl Valentien, Pablo Picasso oder Paul Klee sind, die bemüht werden, sind es oft Zitate aus Katalogen, Presseberichten oder Pressemitteilungen. In der Regel weil der oder die in die Ausstellung Einführende die zitierte Aussage gut findet. Bei mir ist es genau anders herum. Ungeachtet dessen, wer die zitierten Zeilen, die unter anderem auf der Homepage der Galerie der Stadt Wendlingen zum Besuch der Ausstellung „Sonst flöge ich davon“ von Birgit Herzberg-Jochum einladen, geschrieben hat, bin ich mir sicher, dass die sehr nüchtern ausgefallenen Worte der Poesie und dem Zauber, die man vor (und in diesem Fall auch hinter) den Exponaten der Künstlerin spürt, nicht gerecht werden. Und wenn das sogar ich als Mann, als äußerst rational denkender Mensch (fragen Sie meine Freundin) sage, dann muss das ja irgendwie stimmen.


Keine Ahnung, was mit einer „inhaltlich expressiven Ausdruckstechnik“ gemeint ist, aber Birgit Herzberg-Jochums Formensprache ist meiner Meinung gerade nicht „auf das Wesentliche reduziert“. Sie benutzt zwar Figurenkürzel und auf lediglich einige Umrisslinien reduzierte Stellvertreterfiguren, aber ansonsten scheinen ihre Werke ja in einer geradezu unbeschwerten Freiheit aus allen Fugen zu bersten. Ihre Figuren scheinen – mal mehr, mal weniger - aus ihrer unmittelbaren Umgebung ausbrechen zu wollen. Ob es sich hier um „eine aktuelle Form der Collage“ handelt, kann ich nicht beurteilen. In Zeiten, in denen ein Nicht-Aktuell-Sein schon wieder ein Aktuell-Sein bedeuten kann, ist es schwierig sich über eine Zeitmäßigkeit auszulassen. Auf jeden Fall aber finde ich die Mischung aus Malerei, Collage, Relief und Skulptur äußerst reizvoll. In die Bildoberflächen gewebte Wollfäden und Bilder im Bild verwischen die Grenzen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität. Der sonst verborgene Rahmen wird zum Bestandteil des Bildes. Erstmals in der Geschichte der Städtischen Galerie Wendlingen werden die Licht-Leisten zum Aufhängen von Ausstellungstücken benutzt. Die Galerie-Strahler und die Sonne werden so zu Co-Autoren, die Schatten an die Wand zaubern. Durch die transparenten Überziehungen der Holzrahmen wirken die Werke leicht, obwohl sie das faktisch nicht sind.


Geometrische Muster treffen auf Farbschlieren, akkurat gesetzte Linien auf wabernde Flächen, pastos und lasierend aufgetragene Farben auf durchsichtige Hintergründe. Die Oberflächen werden betackert, besprayt, bespachtelt, bepinselt, bezeichnet, bedruckt, beklebt, durchlöchert und aufgeschlitzt. Die Werke gleichen Schwebezuständen zwischen Natürlichkeit und Traum. Durch das Komponieren, Kombinieren und Konfrontieren von Figuren, Attributen, Möbeln, Schriftzügen, Farbwolken und Mustern erschafft Birgit Herzberg-Jochum surreale, narrative Bilderbühnen. Die Ergebnisse sind „schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, um mit Comte de Lautréamont zu sprechen. Lucio Fontana und Andy Warhol werden entzückt. Niki de Saint Phalle auch. Vielleicht hat Birgit Herzberg-Jochum die weibliche Pop-Art erfunden. Vielleicht auch nicht. Die der Ausstellung ihren Titel gebende, großformatige Arbeit „Sonst flöge ich davon“ sehe ich als repräsentativ für die gesamte Ausstellung und die Vorgehensweise der Künstlerin an. Wir sehen eine auf dem Boden liegende Frau, über deren Füßen sich scheinbar weitere Versionen eben dieser Schlafenden oder Nachdenkenden erheben. Die Gedankenblasen – unter dem Kopf der Schlafenden noch als Kissen dienend – verflüchtigen sich rechts immer kleiner werdend nach hinten. Sie sind leer, aber der Bildtitel „Sonst flöge ich davon“ würde als Gedankeninhalt der auf einer Art Balken sitzenden und dort über ihren Abflug sinnierenden Frau durchaus Sinn machen.


Aber auch die als Exponate 11 bis 20 präsentierten Satzfragmente, mit Wolle in transparentes Papier gestickt, als noch trocken zu werdende Wäschestücke an Kleiderbügel gehängt, könnten in die Gedankenblasen gesetzt werden: „Ist doch alles nicht so wild“, „Bleib ruhig“, „Alles gut?!“, „Nur mal kurz weg?“, „Möglicherweise morgen“.


Was hält die Dame, die mit ihren luftig-fragil gesetzten Konturenlinien (aus einem metallic-grauem Stift) höchst leicht wirkt, denn nun vom Fliegen ab? Vielleicht das grüne, geordnete Regal links, das auch ein Teppichmuster sein könnte? Oder der gewebte Strahlenstrang, der in geradezu göttlicher Manier von oben ins Bild und auf den Kopf der Liegenden trifft? Die Pflanze links hat einen Weg des Fliegens gefunden. Sie wirft ihre Blätter von sich, die nun übers Bild schweben.

 

Dieses Werk ist vielschichtig im buchstäblichen Sinne. Braune Backpapier-Flächen, neon-rosafarbene Kreisformen und fragile Linien vereinen sich zum Allover. Das Werk geht aber auch in die Tiefe, gleicht einer Art Seelenstriptease der Künstlerin, die „all-in“ geht, wie eine aktuelle Arbeit auch heißt, die quasi die Karten auf den Tisch legt, die „How do I feel“ zeigt und „Daydreams“ verrät.


Das möglicherweise als eine Art Mantra „Alles gut“ (ohne Fragezeichen!) betitelte Werk, das Sie als Motiv der Einladungskarte kennen, stapelt die rosafarbenen Gedankenblasen zu einem vierteiligen Regal. Die Bild-Protagonistin steht entspannt da, die linke Hand an die Hüfte gelehnt. Selbst die Pflanzen im Hintergrund scheinen momentan ein schönes Leben zu haben. Alles gut, alles geordnet. Das Muster des grünen Rasen- Teppichs offenbart sich als beeindruckende Kollektion von meditativ gesetzten Pinselstreichen, die für die Künstlerin jeweils ein einmaliges Ein- bzw. Ausatmen symbolisieren. Kaum zu glauben: Mit dem Collagieren von durchsichtigen oder halbdurchsichtigen Gaze-Stoffen beschäftigt sich Birgit Herzberg-Jochum seit nunmehr 15 Jahren. Ihre damaligen Erfahrungen als Textildesignerin und ihr Wunsch, den Raum in die Werke zu integrieren, haben zur Einbeziehung eines Polyester-Gazestoffes geführt. Einige der ersten Ergebnisse können Sie im Untergeschoss in Form der 2005 entstandenen „Shirley“-Serie sehen. Die mich persönlich an Nana Mouskouri erinnernde, elegant gekleidete, ansonsten aber weder besonders hübsch, noch besonders hässlich daherkommende Frau hat Birgit Herzberg-Jochum aus einer Fotozeitschrift entnommen und entzeitlicht. Die durchsichtigen Lücken in den „Shirley“-Werken motivieren uns zur Begegnung auf Augenhöhe. „Wir können doch alle ein bisschen Shirley sein“, hat die Künstlerin dazu am Sonntag gesagt. Ja, bitte!


Im Obergeschoss wiederum zeigt uns die Künstlerin Beispiele ihres Schaffens aus den letzten Jahren. Bei „The Flowers I Got“ aus dem Jahr 2015 führt uns Birgit Herzberg-Jochum, wie der Titel bereits sagt, ihren einstigen Besitz an Schnittblumen, aber auch das Fehlen eines grünen Daumens vor. Das schnelle Ableben der Natur im Atelier der Künstlerin wird als Mit-, Gegen- und Übereinander von floralen Linien auf einem insgesamt 150 mal 180 Zentimeter großem Diptychon vorgeführt.


Eine 2013 gefertigte, dreiteilige Arbeit, die einst für eine Ausstellung im Stuttgarter Rathaus entstanden sind, zeigt im ersten Obergeschoss Momentaufnahmen von eben diesem Ort, dem Stuttgarter Rathaus, inklusive Feuerlöscher und Stuttgarter Rössle und holt das Höchstmaß an Poesie aus der sich selbst auferlegten Situation heraus.

 

Vielleicht ist es Ihnen ja nicht aufgefallen, aber fast alle Figuren in den Werken von Birgit Herzberg-Jochum sind nackt. „Wenn wir wir selbst sind, sind wir nackt“, hat die Künstlerin dazu am Sonntag gesagt. Ich denke, das macht Sinn.

 

Die Künstlerin selbst sieht die Exponate als „Inseln, bei denen man kurz eine Auszeit aus dem Alltag nimmt“. Dieses „Man“ kann dabei als Stellvertreter für die Künstlerin selbst, aber auch für die Betrachterin bzw. den Betrachter gesehen werden. Die Alltagshektik-Vermeiderin ruft zum Alltagshektik-Vermeiden auf. Für die jeweils 29 mal 21 Zentimeter großen Exponate 26 bis 33 hat eine Fotoserie von finnischen Frauen Pate gestanden, die allesamt ohne Filter und Fotobearbeitungsprogrammen vorgestellt wurden.

 

Bei Birgit Herzberg-Jochum muntern uns die gezeichneten Akte mit Schriftzügen wie „Morgen ist auch noch ein Tag“ und „möglicherweise morgen“ zum Innehalten auf. Kurze schwarze Pinselstriche stehen auch hier für Atemübungen, für den Rhythmus aus regelmäßigem Ein- und Ausatmen, den die Künstlerin bei der Anfertigung der Bilder angewendet hat und den Sie auch bei der Besichtigung der Ausstellung anwenden können.
 

Ich persönlich mag besonders die Exponate 36 bis 39, von der Künstlerlin „mood“, also „Stimmung“ betitelt, bei denen angefallene Farbreste aus dem Atelier zusammen mit Kuli- und Öl-Strichen zu Lippen und Augenbrauen in stimmungsvollen Selbstportraits werden.


Statt „Sonst flöge ich davon“ hätte die Wendlinger Ausstellung auch „Entschieden Unentschieden“ heißen können. Ob es das „Ansinnen der Künstlerin ist, kurze innere Bilder in Gedanken zu formen“, um noch einmal auf das Zitat vom Anfang zu kommen, würde ich so nicht sagen. Möglicherweise möchte die Künstlerin mit ihren Sprüchen, Gedanken und Figurenkompositionen auf die Ambivalenz ihrer und unserer Existenz verweisen. Denn sitzen wir nicht alle zwischen den Stühlen? Quasi zwischen Pflicht und Wahrheit, zwischen Beruf und Berufung, zwischen Familie und Fun? Wir alle sind „in between“, manchmal „daneben“ und nur manchmal „losgelöst“, um weitere Werktitel zu zitieren. Wann sind wir tatsächlich 100prozentig „wir“? „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm' nur viel zu selten dazu“, haben Udo Lindenberg und Jan Delay vor einigen Jahren gesungen. Die Ausstellung kann oder könnte uns dazu anregen, uns der Situation stellen, das Beste draus machen und unsere Gedanken auf eine Reise zu schicken. Vielleicht hat der anfangs zitierte Schreiber bzw. die Schreiberin das mit „lösungsorientierte Sequenzen“ gemeint?

 

Viel Spaß in der Ausstellung, atmen Sie bitte tief ein und aus, flanieren Sie durch die Ausstellung, nutzen Sie die Gelegenheit, auch hinter die Exponate zu treten und die Herstellungsprozesse der Arbeiten zu erkunden. Bitte lassen Sie Ihre eigenen Gedanken kommen und gehen – und sprechen Sie mit der anwesenden Künstlerin. Falls Sie heute dazu nicht den Mut oder die Zeit finden, kommen Sie einfach am Sonntag, den 5. Mai um 15:00 Uhr wieder. Dann gibt es hier vor Ort ein „Künstlerinnengespräch“. Vielleicht sollte ich noch verraten, dass Birgit Herzberg-Jochum zwar in Marbach am Neckar geboren, aber hier in Wendlingen aufgewachsen, in den Kindergarten und später auch ein paar Jahre zur Schule gegangen ist. Ich sag nur „Tante Bibi“. Auch das kann ja evtl. Gesprächsthema werden.

 

Achja. Und greifen Sie unbedingt zu! Während die Käuferin von Banksys zerschreddertem Ballon-Mädchen 1,2 Millionen Euro auf den Tisch gelegt hat, bekommen Sie hier für lachhafte 350 € zerschredderte und sogar wieder zusammengewebte Motive. Warum eigentlich nicht?

 

Marko Schacher